scherbenpark
interessant genug war. Und in den Schulferien, später auch in den Semesterferien, da bist du immer weggefahren. Mit dem Zug oder per Anhalter, weil du das Meer sehen wolltest oder die Berge. Oder du hast Abo-Werbung für eine studentische Zeitschrift gemacht, da haben sie dich einfach quer durchs Land geschickt, nach Sibirien, in den fernen Osten, du hast nichts so geliebt wie das Ausbüchsen.
Ich will nicht das Meer sehen und auch nicht die Berge. Ich will irgendwohin, wo viele Leute sind und wo es keinem auffällt, so wie ich im Moment aussehe.
Deine Lieblingsstadt war Paris, noch so ein verklärtes Überbleibsel aus der Sowjetzeit – »Paris sehen undsterben«. Wir waren zweimal zusammen dort, es war nett, aber da will ich jetzt nicht hin. Es ist dieses romantische Image, das mir gerade nicht passt.
Und als wir mal in Rom waren, da bin ich vor Hitze und Staub und Moped-Geknatter fast durchgedreht. Da habe ich im Moment wirklich nicht die Nerven dafür.
Berlin ist toll, aber ich will ausnahmsweise nicht alles um mich herum verstehen.
Deswegen, Marina, werde ich mal sehen, wie schnell ich nach Prag komme. Prag war auch deine Lieblingsstadt, du hattest ja nur Lieblingsstädte. Ich habe von Prag zwar nur den ersten Irish Coffee meines Lebens in Erinnerung, den ich in einem Café probieren durfte. Und dass ich auf einer Brücke einem Maler zugeschaut habe. Reisen als Kind bringt wirklich nichts – man erinnert sich höchstens an die Tauben und an das Eis und wie man mal in der Menschenmenge verloren gegangen ist.
Ich habe bis jetzt zu wenig von meinen Sommerferien gehabt. Das hättest du nicht gut gefunden.
Ich stelle das Foto zurück auf den Schreibtisch. Es fällt um, ich stelle es noch mal hin.
Die Krankenhaus-Tasche steht da, nicht ausgepackt, ich mache sie auf und wühle den Inhalt kurz durch. Dann ziehe ich den Reißverschluss wieder zu.
Ich öffne die oberste Schublade meines Schreibtischs und nehme das Netzteil meines Handys heraus, ein eingeschweißtes Tütchen mit Marihuana, von dem ich nicht mehr weiß, wo ich das herhabe, zwei alte Ringe meiner Mutter, die mir von allen Fingern runtergleiten bis auf den Daumen, den MP3-Player, meinen Ausweis, Haargummis, eine angebrochene Packung Paracetamoltabletten und einen Haufen Geldscheine, die ich immer achtlos da hineingeworfen habe, weil ich nie wusste, wofür ich die ausgeben soll.
Das Geld und den MP3-Player stopfe ich in die Hosentasche und den Rest in die Krankenhaus-Tasche. Die Haargummis werfe ich in die Schublade zurück. Ich brauche sie nicht mehr, im Rettungswagen haben sie mir die Haare teilweise abgeschnitten und den Rest dann beim Verbandswechsel im Krankenhaus.
Ich betrachte mich ziemlich lange im Spiegel. Danach suche ich die schwarze Baseballkappe, die ich irgendwann mal besessen habe, vielleicht habe ich sie auch Anton geschenkt. Sie findet sich dann aber doch ganz unten im Schrank, ich setze sie auf und kann mich, wie ich finde, wieder unter Leute wagen.
Ich betrachte meine Fingernägel und schneide sie dann mit der Papierschere ganz kurz.
Ich drehe einen Stift in den Händen und weiß nicht, welche Notiz ich hinterlassen soll. Ich lege den Stift wieder zurück.
Es wäre übertrieben zu sagen, dass ich jetzt gute Laune habe. Aber irgendetwas singt in mir, und zwar einen anderen Text als Eminem.
Im Flur stolpere ich über meine Inliner und dann noch mal über die von Anton. Ich kann mir nicht vorstellen, die Dinger jemals wieder anzuziehen. Ich binde mir die Turnschuhe zu und höre dabei die Stimmen aus dem Wohnzimmer.
Ich habe ein bisschen Angst, dass jemand jetzt nach mir fragt.
Aber das passiert nicht.
Ich ziehe die Tür sehr leise hinter mir zu.
Der Solitär ist ganz still. Nur in einem der obersten Stockwerke weint ein Kind.
Die Bank vor dem Eingang ist leer.
Ich werfe mir die Tasche über die Schulter, schiebe den Schirm meiner Kappe in den Nacken und trete hinaus in die Sonne.
© 2008 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
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