Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
heimzukehren. Lew brachte ihn jedoch dazu, solche Gedanken zu überwinden. »Ich habe ihm hartnäckig zugeredet – und das mit Erfolg –, er solle einsehen, dass sein Sohn ihn braucht, in welcher Verfassung er auch sein mag«, erklärte er Sweta. »Das bedeutet, dass er um jeden Preis durchhalten muss. (Übrigens wäre ich niemals in der Lage, mich selbst zu dieser Reaktion zu bewegen.)«
Daneben tat Lew sein Möglichstes, um Strelkow zu helfen. Im Januar verschlechterte sich dessen Gesundheit plötzlich durch »stechende Schmerzen in der Blase«, wie Lew in einem Brief an Sweta schrieb, der viel über die Behandlung von Kranken im Gulag verriet:
Sein Zustand ist wirklich sehr schlecht. Bei dem gegenwärtigen System der medizinischen Fürsorge ist es jedoch fast unmöglich, effektiv betreut zu werden. »Sprechstunden«, die jedem offenstehen, werden in der Regel von jemandem abgehalten, der keine höhere Ausbildung als ein Feldscher [ungelernter Landarzt oder Wundarzt] hat, und seine Methoden und Therapien sind auf dem gleichen Niveau wie in Tschechows Erzählungen. Die sogenannte Sanitätskommission – welche die »allgemeine Aufsicht« führt – ist ein Witz. Zwei Ärzte widmen sich ungefähr 200 Personen pro Stunde im Windhundverfahren … wobei sie die Patienten hauptsächlich nach deren Aussehen einschätzen. Die Kommission hat keinen Anreiz, irgendetwas zu ändern, und die meisten Einheimischen haben wahrscheinlich nie etwas anderes erlebt … Die Menschen werden nur durch die Abwehrkräfte ihres Körpers gerettet. Ein Detail von G. J.s [Strelkows] »Untersuchung« zeigt, wie aufmerksam die Sanitätskommission ist: Nachdem er über Herzprobleme geklagt hatte, begann eine Frau, sein Herz »abzuhören«. Sie vergaß jedoch, ihm zu sagen, er soll nicht atmen, und führte gleichzeitig ein Gespräch mit einer Kollegin. 15 Sekunden später fiel ihr plötzlich etwas anderes ein, weshalb sie ihn aufforderte, sich anzuziehen und hinauszugehen.
Im Prinzip sollen Spezialisten (Urologen, Neuropathologen etc.) von Zeit zu Zeit Patienten in der Krankenstation empfangen, doch viele hier warten bereits seit Jahren und werden nur unter außergewöhnlichen Umständen in die Station überwiesen. Einer unserer Techniker klagt seit mehr als einem Jahr über Magenschmerzen, aber man verschrieb ihm ein »Allheilmittel«, nämlich einen heißen Ziegel, bis wir ihn vor einem Monat in die Krankenstation bringen mussten, wo er zurzeit darauf wartet, ob er vor oder nach einer Operation wegen Krebs im fortgeschrittenen Stadium sterben wird …
Die Behandlung in der Krankenstation ist nur insofern nützlich, als sie, wie die Ärzte genau wissen, eine kurze Ruhepause ermöglicht und weil sie der Isolierung von Infektionen dient. In der Station beschränkt man sich auf diese beiden Aufgaben, es sei denn, eine Operation wird erforderlich. Dann schickt man die Patienten in die chirurgische Klinik. Sie ist besser als die allgemeine Klinik und verfügt über erfahrenes Personal, doch man kommt erst dann in den Genuss ihrer Vorzüge, wenn die körperliche Unversehrtheit bereits Schaden genommen hat.
Für G. J. wäre es vielleicht am günstigsten, in dieser Klinik behandelt zu werden … Aber das ist nahezu unmöglich, wenn man nicht wegen einer Operation überwiesen wird. G. J. hat nicht viel »Einfluss« auf die Mediziner, obwohl er ihnen enorme Dienste geleistet hat (indem er zum Beispiel ihre Apotheke mit destilliertem Wasser versorgte, das sie sonst aus 5 Kilometer Entfernung hätten herbeiholen müssen, oder indem er Spekula anfertigte). Doch wie jeder anständige Mensch versteht er sich nicht darauf, sie an diese Dienste zu erinnern, und sie sind sehr vergesslich, zumal sie sich nicht um das Unglück anderer scheren.
Es ist wirklich deprimierend, sich G. J. anzusehen. Er ist im vergangenen Jahr stark gealtert. Wenn er in diesem Jahr nicht behandelt wird und wenn Du Walja [Strelkows Tochter] begegnest, dann rate ihr, ihrer Absicht [ihn zu besuchen] im Sommer entschlossener nachzugehen. Sonst wird sie vielleicht keine Möglichkeit mehr haben, ihren Vater wiederzusehen. Und empfiehl ihr, nicht auf seine Einwände (wenn er welche erhebt) zu achten. Obwohl er es nie erwähnt, hofft er insgeheim immer noch, dass sie hierherkommt, und wenn sie es nicht tut, wird er wirklich erschüttert sein. Versuch also, mit ihr darüber zu reden, Swetka.
Sweta suchte Walja auf und wollte sie bewegen, zu ihrem Vater
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