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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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zu reisen, aber Strelkows Frau und die übrige Familie lehnten den Gedanken ab. »[Waljas Mutter] traf ein, als ich gerade aufbrechen wollte«, schrieb sie Lew.
     
Ihr Gesicht ließ keine Emotion erkennen, sie stellte keine einzige Frage und erwiderte meinen Gruß nur vage. Ich glaube, sie lehnte mich ab, weil ich Walja auf den falschen Weg bringe, indem ich ihr rate, nicht weitere 12 Jahre [auf einen Besuch bei Strelkow] zu warten, zusätzlich zu den 13 Jahren, die bereits verloren sind. G. J. war früher nicht damit einverstanden, aber er muss überzeugt werden, dass es am besten ist, wenn sie ihn bald besucht. Freilich, selbst wenn G. J. seine Zustimmung gäbe undWalja reisen wollte, so wären doch ihre sämtlichen Verwandten dagegen (mit Ausnahme einer Tante, die in Sibirien wohnt).
     
    Walja fuhr nicht nach Petschora. Ohne Medikamente und ohne eine angemessene Behandlung seiner Gallensteine wurde Strelkow schwer krank. Die einzige Linderung verschaffte ihm eine Blaulichttherapielampe, obwohl Lew bezweifelte, dass sie viel bewirkte.
    Sweta half Lew, mit all dem Leid fertig zu werden. Sie schickte ihm Geld, Nahrung und Medikamente. Womöglich gerade wegen dieser Bemühungen, Menschen in einer schlechteren Situation als ihrer eigenen beizustehen, war sie besser in der Lage, ihr eigenes Leben nüchterner zu betrachten. »Ich weine nicht mehr«, schrieb sie Lew am 25. März, »und gehe Menschen nicht aus dem Weg. Sie irritieren mich nicht mehr so sehr wie früher.«
    Allerdings war sie verärgert, als Tante Olga, die behauptete, sterbenskrank zu sein, sie zu sich rief. Sweta fand sie in ihrer Kommunalwohnung vor, wo sie »in ihrem Zimmer herumspazierte – was bedeutet, dass sie noch nicht im Sterben liegt«. Möglicherweise war es der Kontrast zu Strelkows und Rykalows echten Qualen, der Sweta die Geduld verlieren ließ. »Ich bin keine Christin«, schrieb sie Lew später, »und ich kann Theatralik im realen Leben nicht ertragen.«
     
Ich schüttete Mama mein Herz aus. Sie verstand meinen Ärger, meinte jedoch, dass Olgas Theatralik eine menschliche Schwäche sei. Was kann ich tun, wenn ich ein so strenger Mensch bin? Ich versprach, Olga während der Feiertage zu besuchen. Dann, um 6 Uhr morgens, als ich bis zu den Ellbogen im Abwaschen, Aufräumen und in allgemeiner Hausarbeit steckte, tauchte plötzlich Serg. Nik. [»Onkel Serjoscha«] auf – offenbar hatte irgendeine Nachbarin [von Olga] ihn benachrichtigt. Diesmal eilte ich nicht sofort zu ihr, sondern wartete bis nach dem Mittagessen. Anscheinend hatte sie sich am Vortag recht gut gefühlt und beschlossen, ein bisschen zu bügeln und zu nähen, wonach sie wieder unter Herzbeschwerden litt. Aber als ich eintraf, fandich sie ganz munter vor (nach ihrer Redseligkeit zu urteilen). In diesem Moment fuhr ich sie ein wenig an – wenn sie so krank sei, solle sie sich hinlegen und keine unnötigen Dinge tun. Und sie solle nicht dauernd jammern, sondern daran denken, dass sie nicht die schrecklichste und furchtbarste Krankheit habe, denn Tausende stürben an Krebs und Gott weiß welchen Gebrechen, wobei sie viel mehr litten.
     
    Da Sweta einiges über die materiellen Bedingungen im Gulag wusste und eine Menge über die Opfer, zu denen Menschen aus Liebe bereit sind, war sie zudem aufgebracht über manche ihrer Freundinnen, die alles besaßen, was sie sich wünschten, ohne dennoch Freude zu finden oder auch nur ihr glückliches Geschick wahrzunehmen. Mitte Mai fuhr sie eines Tages zu ihrer alten Freundin Nina Semaschko, die gerade mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn umgezogen war. Drei Jahre zuvor hatten sie ihr Söhnchen verloren, aber inzwischen erging es ihnen besser, zumindest in materieller Hinsicht:
     
Ich rechnete damit, sozusagen vier Wände, ein paar Personen, die ich kannte, und mehrere vertraute Gegenstände (alte Möbelstücke) zu sehen, doch das Zimmer war voll von neu gekauften Dingen: einem Kleiderschrank, einem Bücherschrank, einem Geschirrschrank, zwei Ess-Klapptischen, einem Schreibtisch, einer Frisierkommode mit einer Marmoroberfläche und fünf Spiegeln, einem Küchentisch, zwei Sofas – und fast hätte ich das Doppelbett aus Holz vergessen. Das ist schön, und ich sollte froh darüber sein, dass sich das Leben der Menschen zu verbessern beginnt, aber der Gedanke, dass all das für uns und unser Glück notwendig sein soll, machte mich schwermütig. Menschen, die früher aus einem Topf tranken, haben sich eine Teekanne zugelegt – eine

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