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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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»weshalb es weniger Konflikte geben wird, denn ohne die neuen Maschinen wären Stromausfälle unvermeidlich«.
    Nach einem Unfall musste das Kraftwerk im Januar jedoch für dreiwöchige Reparaturen geschlossen werden, wodurch das Holzkombinat im ersten Quartal hinter dem Plan zurückblieb. In hitzigen Diskussionen machten die Leiter des Arbeitslagers einander für die Versäumnisse verantwortlich, die ihnen allen den Zorn des MWD in Moskau einbringen konnten. Als die Energieversorgung endlich wiederhergestellt war, fuhr man die Produktion hoch in dem verzweifelten Versuch, die verlorene Zeit aufzuholen, doch dies führte nur zu weiteren Unfällen und Stilllegungen. Am 9. Mai meldete der »Sicherheitsoffizier« des Holzkombinats nicht weniger als 29 »schwere Unfälle« – mit 36 Todesopfern – seit Jahresbeginn. Wie er schrieb, würden die Sicherheitsvorschriften ignoriert, und überall herrsche »Chaos«. Ein Dutzend Arbeiter kam in der 5. Kolonie um, als ein Lastwagen, der siebzig Männer zur Arbeit brachte, auf dem Eis ins Schleudern geriet und umkippte. Zwei Männer in der 3. Kolonie wurden von Balken zermalmt, die von einem Eisenbahnwaggon herunterrutschten. »Wir leben und arbeiten genau wie immer«, meinte Lew am 10. Juni sarkastisch.
     
Für viele unserer Onkel [MWD-Funktionäre] ist das Bauprojekt eine Art Spiel. Die Kontrolleure kommen einmal pro Wocheaus ihren Büros hervor, treffen mit ihren Autos ein (eine Fahrt von einem Kilometer), spazieren umher und brüllen: »Warum zum Teufel seid ihr so langsam? Nichts wird hier geschafft!« So ähnlich äußern sie sich, wenn auch mit einer saftigeren Wortwahl. Niemand gibt irgendeine praktische Anweisung – etwa, wie genau man die Dinge beschleunigen könnte. Die Onkel von etwas niedrigerem Rang stehen herum, setzen eine interessierte Miene auf und geben hin und wieder hilfreiche Kommentare von sich, die zu verschwommen sind, um angewendet werden zu können, und deshalb sinnlos erscheinen. Keiner der technischen Leiter macht sich die Mühe, über die Ursache der Probleme nachzudenken (die leider nicht zu behebende Hauptursache ist die, dass sie sich das Projekt nicht gründlich überlegten, als sie es hätten tun sollen), und alle sind offenbar der Meinung, dass nur schon die Tatsache ihres Besuchs uns die notwendige Anleitung und Unterstützung verschafft hat. Ach, diese Taugenichtse!
     
    Sieben dieser »Taugenichtse« wurden im April entlassen und später verhaftet, nachdem sie im Rahmen einer MWD-Sonderermittlung des massenhaften Diebstahls und Betrugs für schuldig befunden worden waren. Sie hatten 8000 Meter Tauwerk, 200 Kilo Tomaten, 7 Kisten Butter, 6 Kisten Würste und 57 Matratzen gestohlen und privat weiterverkauft. Als Reaktion auf den Skandal beschlossen die Parteiführer des Holzkombinats, wachsamer zu sein.
    Eines der ersten Opfer der neuen Kampagne war Boris Arwanitopulo, der Chef des Kraftwerks, bei dem Sweta während ihrer Besuche in den Jahren 1948 und 1949 gewohnt hatte. Arwanitopulo war wiederholt mit den Behörden aneinandergeraten. Im März 1950 hatten die Parteiführer des Holzkombinats ihm einen »stengen Verweis« (strogi wygowor) erteilt, weil »er sich von den Pflichten der Verwaltung distanzierte«, das heißt weil er sich mit den Häftlingen verbrüderte und manchmal mit ihnen betrank. Arwanitopulo wurde im folgenden Jahr sechs weitere Male gerügt – einmal wegen »Unterbringung unautorisierter Personen« in seiner Wohnung (möglicherweise ein Hinweis auf Sweta); ein andermal, im Januar1951 , wurde er für den Unfall im Kraftwerk verantwortlich gemacht. Nun wurde ihm »Diebstahl sozialistischen Eigentums« vorgeworfen: Er hatte in der Möbelwerkstatt gegen Geld einen Kleiderschrank für seine Frau Vera herstellen lassen und versucht, ihn aus der Industriezone hinauszuschmuggeln, indem er einen der Wärter mit 300 Rubeln bestach. Es gab Forderungen, ihn hinauszuwerfen und vor das Volksgericht zu stellen. Der Parteivorsitzende und stellvertretende Direktor des Holzkombinats, Sotikow Serditow, schickte dem MWD in Moskau eine förmliche Anzeige, und Arwanitopulo wurde entlassen. Er wohnte weiterhin mit seiner Familie in Petschora und suchte in anderen Orten nach Arbeit – allerdings vergeblich, da sein Ruf geschädigt war. Lew tat all das leid. »Es ist eine Katastrophe«, schrieb er Sweta. »Vera kann ihre beiden Kinder nicht angemessen ernähren und aufziehen. Gewiss, sie hat eine Ausbildung – sie ist Köchin –, aber wie

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