Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
Platz. »Es hat uns viel Spaß gemacht«, schrieb sie Lew. Alle seien vom strömenden Regen »durchnässt« worden.
Die Menschen sangen: »Begießt euch mit kaltem Wasser, wenn ihr gesund sein wollt«, und: »Werdet so hart wie Stahl.« 44 Ich ging um 14.30 Uhr über den Roten Platz, doch um 14.45 Uhr, als ich auf der Marosseika war, goss es so sehr, dass die Demonstration abgebrochen werden musste. Ich stapfte durch knöchelhohes Wasser nach Hause (meine Schuhe sind immer noch nicht völlig trocken). Die Menschen sagten lachend, dass die Zehenlöcher in ihren Sandalen dazu gedacht seien, das Wasser ablaufen zu lassen. Über einem Teil der Stadt brach ein Hagelsturm aus. Große Hagelkörner bedeckten den Boden am Institut und blieben drei oder vier Stunden liegen.
Was ging Sweta durch den Kopf, als sie an jenem Nachmittag auf dem Roten Platz an Stalin vorbeimarschierte? Blickte sie überhaupt zu den Sowjetführern hinüber, die auf dem Lenin-Mausoleum standen und den Massen zuwinkten? Dachte sie je über Stalin nach? Oder über das System, das ihr Lew weggenommen hatte? In Swetas Briefen ist sehr selten von Politik die Rede. Sie hält, so viel wird deutlich, wenig von der Bürokratie und deren klischeehafter Prosa, und sie verachtet den »Diamat« (dialektischer Materialismus), den sie im Institut studieren muss. Die Säuberungen in der wissenschaftlichen Welt und die »antikosmopolitische« Kampagne gegen die Juden beunruhigen sie, und sie ist misstrauisch den MWD-Agenten gegenüber, die sie von Zeit zu Zeit mit Fragen nach Lew belästigen (da das MWD mindestens eines von Swetas Telegrammen während ihrer Reisen nach Petschora abgefangen hatte, war sie bestimmt unter Beobachtung gestellt worden). Andererseits nimmt Sweta aktiv am politischen und öffentlichen Leben teil: Sie opfert Zeit für den Wahlkampf im Bezirkssowjet; sie repräsentiert ihr Institut auf Gewerkschaftskonferenzen; sie ist Mitglied der Kommunistischen Partei und schreibt Berichte für Parteiversammlungen im Institut. Von jemandem, der wie sie an militärisch wichtigen Forschungen beteiligt war, wurde natürlich erwartet, dass er seineLoyalität durch derartige politische Tätigkeit unter Beweis stellte. Andernfalls hätte sie Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Aber nach ihren Briefen zu urteilen, erledigte Sweta ihre Parteipflichten genauso gewissenhaft wie ihre Forschungsarbeit: In ihrer beruflichen Identität gab es keine Trennung zwischen den beiden Bereichen. All ihren Zweifeln zum Trotz war sie vom sozialistischen Ideal des Fortschritts durch Wissenschaft und Technik überzeugt, einschließlich der Propagandabotschaft der großen Bauprojekte des Kommunismus, die von Gulag-Arbeitern errichtet wurden.
Wie Millionen Sowjetbürger existierte Sweta in einer zwiespältigen Welt des Glaubens und des Zweifels. In ihrem öffentlichen Leben diente sie als Funktionärin des Sowjetsystems, und ihre Forschung über die Reifenproduktion war bedeutsam für den militärisch-industriellen Komplex, der unter anderem auf der Ausbeutung von Häftlingen wie Lew beruhte. In ihrem Privatleben und in emotionaler Hinsicht hingegen identifizierte sie sich ganz und gar mit ebendiesen Häftlingen und versuchte, deren Leid zu mindern, indem sie ihnen Geld, Lebensmittel und Medikamente schickte. Die Spannung zwischen diesen beiden Bewusstseinsebenen muss sie doch sehr belastet haben. Ungefähr eine Woche bevor sie an den Maifeiern auf dem Roten Platz teilnahm, hatte Sweta von Lew geträumt. Der Traum verstörte sie, denn sie sah ein präzises Bild seiner schrecklichen Umstände im Arbeitslager vor sich. »Ljowa«, schrieb sie am 23. April, »Gewissensbisse und Kummer nagen an mir.«
Ob es daran lag, dass ich gestern erschöpft war oder auf der falschen Seite schlief, weiß ich nicht, aber bis zum Morgen träumte ich, ich hätte Dich unter den heutigen Bedingungen besucht, und in meinem Traum war alles so real – all die Menschen, Gesten und Worte. Sie waren nicht bloß vertraut, sondern exakt so, wie ich sie erlebt hatte. Ich erwachte mit einer entsetzlichen Sehnsucht.
Swetas Unruhe hatte vielleicht mit der Tatsache zu tun, dass sie ihre Pläne, Lew in jenem Jahr zu besuchen, vorläufig aufgegeben hatte.Am 2. April hatte Lew sie gewarnt, dass er sich an den Wolga-Don-Kanal versetzen lassen wolle, um auf der fast fertigen Baustelle als Elektriker zu arbeiten:
Ich möchte in die Fußstapfen des Bartes [Alexander Semjonow, der erfolgreich eine Verlegung
Weitere Kostenlose Bücher