Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
Winter, das viel Ski- und Schlittschuhfahren, Schwimmen und Musik vorsah. »Ich kann mich nicht entscheiden«, schrieb sie am 14. Oktober, »ob es schlimm ist, an Dinge zu denken, die allein dem Vergnügen dienen, und davon zu träumen, einfach so in den Tag hineinzuleben.«
Denn im Augenblick wünsche ich mir wirklich nichts so sehr, wie für unser Leben in der Zukunft gesund zu sein. Die Umstände werden bestimmt nicht leicht werden, und ich werde Stärke und Widerstandskraft benötigen. Vielleicht ist das bloß eine Entschuldigung für Faulheit. Gewöhnlich sind mir Ausflüge, die einen Zweck haben (Pilze- und Beerensuchen oder Wanderungen mit einem klaren Ziel) lieber als planloses Umherstreifen. Nun jedoch habe ich nur ein einziges Ziel: auf Dich zu warten. Das Wort »warten« ist zu passiv: Kummer verbraucht meine Energie und hält mich von einem normalen Leben ab. Eben fällt mir ein Satz ein, den Du einmal gesagt hast: »Ich würde ohne Dich nirgendwohin gehen.« Das stimmt, Ljowa. Aber ich möchte, dass die Welt, auch wenn ich kein Teil von ihr bin, für Dich gut und interessant ist. Das wird ein entscheidender Sieg für mich sein, denn dann brauche ich mir keine Sorgen mehr um Dich zu machen. Es ist nicht gut, sich nur auf einen einzigen Menschen zu verlassen (das Gleiche, als hätte man nur ein einziges Kind).
Lew antwortete mit einem seiner leidenschaftlichsten Briefe, den er in den ersten drei Novembertagen schrieb.
Ich stimme Dir zu, dass die Welt, egal wer ihr angehört, ein guter und interessanter Ort ist, jedoch nur im allgemeinsten Sinne. Nichts davon ist nämlich wahr, sofern es Dich betrifft, Sweta. Swet, die Welt ist fraglos gut, aber sie ist so viel schöner, wenn sie von Dir erleuchtet wird, dass ich sie mir nicht und niemals ohne die Helligkeit ansehen möchte, die Du ihr verleihst. 42 Möchtest Du wirklich, dass ich die Welt im Dunkeln oder bestenfalls im Halbdunkel erlebe, nachdem Du fortgegangen bist? »Es ist nicht gut, sich nur auf einen einzigen Menschen zu verlassen«? Sweta, Sweta, wenn nicht Du jene Worte geschrieben hättest, wenn Deine unendliche Selbstlosigkeit (es gibt kein anderesWort dafür) nicht wäre, wenn ich jenen Brief von jemand anders erhalten hätte, dann hätte ich nicht mehr geschrieben. Während ich also mit der allgemeinen Theorie einverstanden bin, ist sie doch nur ein Beispiel für ein fehlerhaftes Denken.
»Das wird ein entscheidender Sieg für mich sein, denn dann brauche ich mir keine Sorgen mehr um Dich zu machen.« Hättest Du dies nur im Konditional geschrieben, Sweta.
Es kann nicht geschehen, und zwar deshalb nicht, weil es das Ende von allem bedeuten würde, was in mir noch menschlich ist. Es wäre ein moralischer Selbstmord, kein Sieg. Wessen Sieg und über wen? Deiner, über Dich selbst? Einen Sieg über Dich selbst zu beanspruchen wäre unsinnig, und niemand und nichts kann Dich in meinem Innern besiegen – aus Gründen des Alters, des Temperaments und unserer gemeinsamen, vom Schicksal geplagten Vergangenheit. Und warum solltest Du versuchen, mich in einen derart hohlen »Sieg« hineinzumanövrieren? Das ist grausam, nicht gütig. Ist in den letzten tausend Jahren von Menschen, die ein Herz und eine Seele haben, wirklich so wenig gesagt, geschrieben und gesungen worden? Swetloje, solchen falschen Trost brauche ich nicht. Allen Ernstes, Du wärest besser beraten, den Winter einfach mit Skifahren, am Schwimmbecken und auf dem Lande zu verbringen und Dich um Dich selbst zu kümmern.
Sweta erwiderte:
Mein Liebling Lew, ich habe Deinen Brief vom 1.–3. November gestern erhalten. Ljowa, ich habe mich nicht korrekt ausgedrückt, und ich weiß noch immer nicht, wie ich am besten sagen kann, was ich meine. Gott bewahre, dass ich mir wünschte, jemand (oder etwas) solle mich in Deinem Innern besiegen. Als ich vom Sieg schrieb, meinte ich unseren eigenen. Nicht den Sieg über uns, sondern den Sieg über alles Grausame, dem wir uns stellen mussten, über die Bürden, die uns stolpern ließen und uns Schmerz bereiteten. Ich möchte nicht, dass der Schmerz Dich auch nur für eine Sekunde all das Gute auf der Welt vergessen lässt: die Erde und die Sonne und das Wasser und, am allerwichtigsten, die Menschen und die Beziehungen. Ich möchte nicht, dass diese Freude nachlässt, und ich möchte, dass wir noch lange jung sind. Das Denken – jegliches Denken – hat nichts damit zu tun. Ljowa, wenn die Welt bereits erleuchtet ist, dann
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