Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
hoffe ich, dass sie so hell bleibt, ungeachtet der physikalischen Gesetze und der Entfernung von der Lichtquelle. Und in Wirklichkeit gibt es keine Entfernung, denn die Quelle ist Deine Einstellung zu anderen, was bedeutet, dass sie immer in Dir ist … Trotzdem habe ich damit recht, dass man sich nicht nur auf einen einzigen Menschen verlassen soll, Ljowa. Das Leben sollte so entschieden gelebt werden, dass nicht einmal der größte Kummer diese Einstellung ändern kann, solange es keine kleinmütige Einstellung von unten, sondern eine weise, fast tolstojanische Einstellung von oben ist. In diesem Fall ist sie alles andere als die Vernichtung dessen, was menschlich ist; im Gegenteil, sie macht uns zu Menschen. Es frustriert mich, dass ich mich nicht besser ausdrücken kann. Vielleicht solltest Du diesen Brief zerreißen. Ich empfinde Mitleid mit jemandem, der seine Lebensfreude beim Zusammenprall mit dieser Einstellung einbüßt (vielleicht nicht nur Mitleid, sondern auch Liebe), aber ich habe den größten Respekt vor denjenigen, die auf den Beinen bleiben (wenn sie es nicht aus leichtfertiger Prahlerei, sondern durch Willenskraft, Intelligenz und Charakterstärke tun) … Ich erscheine anderen mutiger, als ich es bin, aber ich versuche, mich nicht unterkriegen zu lassen, und ich glaube, so sollte es sein. Oh, ich geb’s auf, ich kann es nicht. Ich wollte einen netten, humorvollen, fröhlichen Brief schreiben und Dich wissen lassen, dass Deine Worte Musik in meinen Ohren sind, aber stattdessen bin ich ärgerlich über mich selbst geworden und könnte wegen meines unverständlichen Gemurmels beinahe in Tränen ausbrechen. Ach ja, was lässt sich über das Wetter sagen? Nur, dass es fürchterlich ist.
39 Zum Vergleich: 1950 erhielten freiwillige Arbeiter im Holzkombinat durchschnittlich etwa 800 Rubel und Verwaltungspersonal etwa 1200 Rubel monatlich ( GU NARK , f. 173, op. 1, d. 1, l. 2).
40 Kleine Würfel aus Pulverkaffee, gemischt mit Trockenmilch und Zucker.
41 Lew hatte keinen Grund zu dieser Annahme, fühlte sich aber dennoch schuldig, weil er selbst nicht in die 3. Kolonie geschickt worden war.
42 Erneut verbindet Lew den Namen »Sweta« mit dem russischen Wort für »Licht« ( swet ) .
10
»Mein Liebling Sweta, das neue Jahr ist eine Fortsetzung des alten«, schrieb Lew am 4. Januar. »Wir haben den Silvesterabend ruhig und bescheiden in der Baracke verbracht, wo dank Ljoscha [Anissimow] ein zottiger Weihnachtsbaum stand, der dank kollektiver Anstrengungen recht ansehnlich geschmückt war.« Während 1950 zu Ende ging, dachte Lew darüber nach, dass er nun ein Jahr weniger bis zu seiner Entlassung vor sich hatte.
Vorläufig jedoch musste er mit den Januartemperaturen von minus 40 Grad und kälter fertig werden, wobei er kaum etwas anderes als Sweta im Sinn hatte. »Mein Liebling«, begann er am 13. Januar,
den Brief von gestern habe ich Dir immer noch nicht geschickt, aber das Papier zieht mich bereits wieder an – aus keinem besonderen Grund, nur um Deinen Namen irgendwo niederschreiben zu können. In meinem Kopf ist kein Platz mehr für ihn, denn dort wiederhole ich ihn unaufhörlich in jeder Intonation und in jeder zulässigen und unzulässigen grammatischen Form … Ich versuche, mich mit mehr Arbeit zu beschäftigen, um nicht dauernd an Euer Gnaden zu denken, und es gelingt mir ziemlich gut – na, siehst Du.
Tatsächlich hatte Lew viel Arbeit im Kraftwerk. Zwei deutsche »Reparationsgeneratoren« 43 waren unerwartet in Petschora aufgetaucht, »wahrscheinlich auf dem Weg irgendwo anders hin«, mutmaßte Lew. Er war daran beteiligt, eine der Maschinen einzubauen, um die Kraftwerksleistung im Holzkombinat zu erhöhen. Der zweiteGenerator wurde in das Kraftwerk im Ort montiert. Die sich rasch entwickelnden Industrien von Petschora benötigten dringend mehr Strom. Vor 1951 hatte das Holzkombinat den Bedarf des Ortes weitgehend gedeckt, obwohl es selbst zusätzliche Elektrizität aus Tscheljabinsk erwarb, da das Kraftwerk in Petschora für die Nachfrage zu klein war. Es kam zu häufigen Auseinandersetzungen um Energie zwischen der Ortschaft (wo die Gulagchefs ständige Heizung und Beleuchtung für den Komfort ihrer Unterkünfte verlangten) und dem Holzkombinat (wo Treibstoff zur Erfüllung des Produktionsplans benötigt wurde). Die Ankunft der deutschen Generatoren würde das Lager der Notwendigkeit entheben, »den Ort zu versorgen«, wie Lew Sweta am 7. April erklärte,
Weitere Kostenlose Bücher