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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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sie die Lage bewältigen soll, ist nicht klar (obwohl es zu früh erscheint, darüber zu sprechen) … Boris hält sich wacker, aber Vera (deren Habgier alles ausgelöst hat) weint die ganze Zeit.«
    Arwanitopulo war nicht der einzige Verwaltungsangehörige, der enge Beziehungen zu den Häftlingen unterhielt. Wladimir Nowikow, der Produktionsleiter, konnte häufig beim Dominospiel in den Baracken beobachtet werden, und Iwan Serpunin, der Chefökonom, zählte viele Insassen zu seinen Freunden. Ein Foto der Verwaltungsangehörigen etwa aus der Zeit zeigt eine bunt gemischte Gruppe von MWD- und Parteifunktionären, freiwilligen Arbeitern und Häftlingen. Auffällig an dem Bild ist, wie gelöst alle aussehen. Trotz ihrer unterschiedlichen Ränge im Gulagsystem sitzen oder stehen sie keineswegs hierarchisch angeordnet, und wenig deutet auf Spannungen unter ihnen hin. Der MWD-Direktor des Holzkombinats macht einen unbekümmerten Eindruck in der Mitte der Gruppe, während Häftlinge zu seinen Füßen sitzen und zusammengedrängt hinter ihm stehen.
     

    Die Verwaltung des Holzkombinats, 1950. Nowikow (Zweiter von rechts), Serpunin (Zweiter von links) und der MWD-Direktor des Holzkombinats, Boris Popow (Dritter von links), sitzen in der Mittelreihe. Die drei Männer rechts in der ersten Reihe und die sechs in der Mitte der hinteren Reihe sind Häftlinge.
     
    Von 1951 an wurden die Sicherheitsmaßnahmen im Lager immer laxer gehandhabt. Ob es an der wachsenden Vermischung zwischen Funktionären und Häftlingen, den zahlreicheren Bestechungsmöglichkeitenoder an der massiven Erhöhung des Wodkanachschubs lag, ist schwer zu ermitteln. Zweifellos aber spielten all diese Faktoren eine Rolle. Auf einer Parteiversammlung am 6. Juni 1951 räumte der Befehlshaber der Wärter, Iwan Kowaltschuk, ein, dass es in den vorangegangenen drei Monaten 27 erfolgreiche Fluchtversuche durch einzelne Gefangene oder ganze Gruppen gegeben habe. In manchen Fällen hätten die Wärter, bestochen mit einem Liter Wodka pro Mann, sogar bei der Flucht Hilfestellung geleistet. Einige Häftlinge entkamen, indem sie auf Eisenbahnwaggons sprangen, die gerade die Industriezone verließen; andere spazierten einfach durchs Tor, während die Wärter betrunken waren, oder wurden vom Personal nicht zurückgehalten, weil sie es mit Messern, Sägen und Rasiermessern bedrohten.
    Die Aufsicht war besonders mangelhaft in Lews 2. Kolonie. Kowaltschukhatte eine Verschwörung von vierzig Häftlingen aufgedeckt, die eine gemeinsame Flucht planten. Obwohl die Wärter darüber unterrichtet waren, hatten sie nichts zur Bestrafung der Verschwörer unternommen. Obendrein streikte auch noch ein großer Teil der Häftlinge. Sie erschienen nicht zum Appell, sondern blieben in ihren Baracken und spielten Karten. Die Wärter, hauptsächlich Bauernjungen, »von denen viele dem MWD ebenfalls feindlich gegenüberstehen«, wie Kowaltschuk klagte, konnten sie nicht einschüchtern. Und wenn die Aufseher nicht mit den Häftlingen sympathisierten, so hatten sie jedenfalls nichts gegen Bargeldangebote, ein Glas Wodka oder sexuelle Vergünstigungen durch weibliche Gefangene einzuwenden.
    Am 25. April diskutierten die Parteiführer des Holzkombinats über einen Aufstand, der in der 2. Kolonie stattfinden sollte: Mehrere Häftlinge planten, am 1. Mai ein Feuer in den Werkstätten anzuzünden, um eine Massenflucht zu ermöglichen, in der Annahme, dass die Wärter am Maifeiertag alle betrunken sein würden. Die Parteiführer kümmerten sich nun selbst um die Sicherheit, wobei sie sich einredeten, dass der Aufstand politischen Charakter habe und mit dem Kalten Krieg verknüpft sei. »Unsere Feinde im Lager erwarten einen neuen Krieg«, erklärte einer von ihnen. »Sie verfolgen die internationalen Ereignisse und freuen sich darüber, Verbündete im Ausland zu haben.« Am 1. Mai wurden alle Parteiangehörigen im Lager mobilisiert (25 Vollmitglieder und 20 Komsomolzen), mit Waffen ausgerüstet und in den Werkstätten innerhalb der Industriezone postiert. Für die Gefangenen war der 1. Mai ein normaler Arbeitstag, und er verstrich ohne besondere Vorfälle. Wahrscheinlich hatten sie die verschärften Sicherheitsmaßnahmen bemerkt und beschlossen, den Aufstand abzublasen. Wie sie jedoch erwartet hatten, betranken sich viele Wärter, und am Abend kam es zu einer Schlägerei unter ihnen im Clubhaus.
    Sweta marschierte am 1. Mai zusammen mit ihren Kollegen vom Institut durch die Straßen Moskaus zum Roten

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