Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
tranken natürlich auf die Gesundheit derjenigen, die nicht bei uns waren. Und dann geschah es ganz plötzlich – eine Benachrichtigung über Tanjas Tod traf ein (Onkel Kescha fing sie ab und zeigte sie Mama erst viel später).
Tanja war in einem Lazarett in Stalingrad an Blinddarmentzündung gestorben. Weitere schlechte Nachrichten blieben nicht aus: Tante Olga war offiziell von den Militärbehörden unterrichtet worden, dass Lew an der Front »verschollen« sei – eine schreckliche Mitteilung für Millionen von Familien, die noch unter dem Terror der dreißiger Jahre litten, als so viele Menschen »verschwanden«. Der Ausdruck »verschollen« (propal bes westi) konnte alles Möglichebedeuten: Gefangennahme durch den Feind (nach sowjetischem Kriegsrecht das Gleiche wie Verrat); schlimmer noch, »Desertion« (ein Verbrechen, das von »Volksfeinden« begangen wurde); oder Tod ohne Auffindung der Leiche. So viele Soldaten waren getötet worden, dass Sweta das Schlimmste für Lew befürchtet haben musste.
Es war so schmerzhaft und bedrückend, dass ich beschloss, meinen Geburtstag nie wieder zu feiern, solange Du nicht bei mir wärst. Du weißt, wie qualvoll die Existenz eines Zwergsterns ist, da er seine gesamte Elektronenhülle verloren und nur seinen Kern gerettet hat; in meiner Brust war genau das gleiche Gefühl der Leere und der Qual, als hätte mein Herz sich in sich selbst zurückgezogen. Es war unmöglich, zu atmen. Monatelang konnte ich mit niemandem sprechen, nirgendwohin gehen, nichts lesen. Sobald ich nach Hause kam, drehte ich das Gesicht zur Wand. Und wie sehr ich abends, nachts oder morgens auch weinte, der Schmerz ließ nie nach.
Um mit ihrer Sehnsucht nach Lew und ihrer Sorge um ihn fertig zu werden, ließ Sweta ihre Gefühle in mehrere Gedichte einfließen. Zwei davon haben sich erhalten. Das erste ist auf »Winter 1943« datiert, nicht lange nach »jenem schrecklichen Tag« im September, als sie hörte, dass Lew verschwunden sei. »Es war das, was ich jemandem mitteilen musste«, schrieb sie später über die Verse, die ihre Trauer über Lews Verlust ausdrückten.
Ganz lange stand ich auf der Schwelle,
Doch dann beschloss ich aufzubrechen.
Auf der Straße, zwischen zermalmten Steinen,
Fand ich ein Symbol von Frieden und Glück –
Ein Hufeisen, zu hängen über deine Tür.
Ich nahm es mit, um meine Freude mit dir zu teilen,
Aber der Krieg trennte unsere Wege,
Auf denen wir nun allein wandeln müssen.
Durch welche Wälder bist du vorgedrungen?
Welche Steine tragen die Spuren deines Blutes?
Hier dagegen das Gespenst eines einsamen Alters,
Das immer bedrohlicher über mir schwebt.
Welches Andenken wirst du mir hinterlassen?
Den bitteren Eindruck eines längst vergangenen Traums?
Oder wird eine andere Frau dein Herz berühren
Mit glühenden Worten im September?
Kann ich dir nicht vertrauen? Wem sonst, wenn nicht dir –
Einem Jüngling, der mir nun fremd ist?
Mein Freundeskreis wird immer schmaler,
Wer von euch wird das Ende mit mir erreichen?
Das zweite, kürzere Gedicht entstand ebenfalls in jenem Winter. Noch ausgeprägter als im ersten ist eine Note der Hoffnungslosigkeit in Swetas Gebet für Lews Rückkehr.
Ich urteile nicht über dich, der du unter Beschuss bist
Und mit dem der Tod wohl oft gesprochen hat,
Sondern ich kann nur Tag und Nacht beten,
Dass die Muttergottes dich für mich bewahrt.
Dafür würde ich beten. Aber das ABC der Gebete
Haben meine Mutter und mein Vater mich nicht gelehrt,
Und ich konnte keinen Weg zu Gott finden
In Freude, Sorge oder Kummer.
Lew war indes nicht tot, sondern er befand sich in einem von Hitlers grausamsten Arbeitslagern, einem Stalag in Leipzig, von dem sowjetische Kriegsgefangene täglich unter schwerer Bewachung zur Pittler-Munitionsfabrik marschieren mussten. Lew war vom Lager Mühlberg, wo man ihn nach seiner Gefangennahme an der polnischen Grenze im Juli 1943 inhaftiert hatte, dorthin verlegt worden. Die Kontrolle in der Pittler-Fabrik war äußerst streng. Bewaffnete Wärter standen in den Werkhallen an allen Türen, und der deutscheVorarbeiter trug einen Revolver bei sich, den er jederzeit benutzen konnte. Im Winter 1943/44 wurde die Arbeit immer anstrengender, denn der Waffen- und Munitionsbedarf des deutschen Heeres wuchs mit jeder neuen Niederlage an der Ostfront. Die Produktivität sank, weil die Gefangenen unter Erschöpfung litten und undiszipliniert wurden, weshalb die Gestapo ermittelte, um potenzielle
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