Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
konnte. Im Januar 1943 war Sweta wieder daheim. Große Teile der Stadt, die Lew und Sweta als Studenten gekannt hatten, waren durch den Krieg zerstört oder beschädigt worden. Viele Gebäude blieben unbeheizt, die Beleuchtung wurde gedämpft und fiel durch Stromknappheit oftmals ganz aus, die Kanalisationsrohre waren undicht, und die Lebensmittelgeschäfte hatten nichts anzubieten. »1943 und 1944 war es sehr anstrengend für alle«, schrieb Sweta später. »Wir froren, hatten Hunger und lebten im Dunkeln.«
Swetas Eltern waren im April 1942 mit ihrer jüngeren Schwester Tanja nach Moskau zurückgefahren. Sie sahen merklich gealtert aus. Anastasia wurde häufig von Bruzellose geplagt, einer schmerzhaften Magenkrankheit, die sie jeglicher Energie beraubte, und Alexander schien mit sechzig Jahren ebenfalls nachzulassen. Sweta fand sie bei ihrer eigenen Rückkehr in einem nervösen Zustand vor. Tatsächlich gab es für sie reichlich Grund zur Sorge: Swetas Bruder hatte sich seit seiner Abreise an die Front nicht mehr gemeldet (die Deutschen hatten ihn gefangen genommen und in ein Konzentrationslager auf der Ostseeinsel Usedom geschickt); außerdemwar Tanja im September 1942 als studentische »Freiwillige« nach Stalingrad gesandt worden. 6 Zudem mussten sie sich um Alexanders jüngeren Bruder Innokenti (»Onkel Kescha«) und dessen Frau kümmern. Das Leningrader Ehepaar hielt sich seit Kriegsbeginn in Moskau auf und konnte erst heimkehren, als die Belagerung der Stadt 1943 aufgehoben wurde.
Von der Familienwohnung im Kasarmenny pereulok musste Sweta eine lange Straßenbahnfahrt zum Institut an der Chaussee der Enthusiasten zurücklegen. Dort arbeitete sie in einem alten Labor in der dritten Etage, von wo sie durch die Fenster auf die Fabrikschlote Ost-Moskaus hinausblickte. Die Umgebung deprimierte sie. Immer wieder erwog sie, davonzulaufen oder anderswo einen Forschungsposten zu übernehmen, vielleicht sogar in einer anderen Stadt, aber sie »fürchtete, die Verbindung zu Lew zu verlieren«. Moskau war der einzige Kontaktpunkt der beiden und der Ort, an den er, wie sie hoffte, zurückkehren würde.
Obwohl Sweta nichts Neues über Lew erfahren konnte, hatte sie Grund zu der Annahme, dass er noch lebte: 1942 hatte das NKWD seine Tante Olga aufgesucht, um sich zu erkundigen, ob sie von ihm gehört habe. Die Männer durchsuchten die Sachen in seinem Zimmer, das damals noch für ihn als diensttuenden Soldaten frei gehalten wurde. Einige der Spione, welche die Deutschen in Katyn rekrutiert hatten, waren offenkundig in sowjetisches Gebiet eingedrungen und verhaftet worden. Im Verhör musste einer von ihnen Lew erwähnt und den Vorfall beschrieben haben, als er mit dem Hauptmann Deutsch sprach. Das NKWD ging wahrscheinlich davon aus, dass Lew in Moskau für die Deutschen spionierte. Nach Swetas Rückkehr in die Hauptstadt wurde sie fast »jeden Abend« zum Verhör geladen. Man wusste, dass Lew Kontakt mit ihr aufnehmen würde, falls er bereits in Moskau war. Das NKWD behauptete, Lew sei ein Spion, und wollte Sweta zwingen, bei seiner Verhaftung mitzuwirken. Für den Fall ihrer Weigerung wurden ihrernste Konsequenzen angedroht. Es war beängstigend, in die Lubjanka, das NKWD-Hauptquartier, einbestellt zu werden, denn der Große Terror war den Menschen noch in frischer Erinnerung. Doch Sweta ließ sich nicht leicht einschüchtern, und um ihre Beziehung zu Lew zu verteidigen, war sie bereit, sich den Sowjetbehörden zu widersetzen. Schließlich wurde sie der Schikanen überdrüssig und forderte die NKWD-Männer in einem Moment charakteristischer Tapferkeit und eigensinniger Unvernunft auf, sie in Ruhe zu lassen. »Ich wurde ein bisschen ärgerlich, weil dieselben Verwandten [Code für NKWD-Angehörige] mich dauernd belästigten. Ich sagte, ich sei noch nicht Deine Frau und die Angelegenheit werde erst dann geklärt werden, wenn wir zusammenkämen – nicht bloß für eine Stunde, sondern für immer«, schrieb sie Lew später.
Gleichzeitig wandte Sweta sich an die Militärbehörden, um Informationen über Lew zu erbitten. Kurz nach ihrem 26. Geburtstag, am 10. September1943 , erhielt sie eine Nachricht. »All meine Verwandten waren zu meinem Geburtstag gekommen«, teilte sie Lew später mit.
Der Bruder meines Vaters aus Moskau mit seiner Familie, sein Bruder aus Leningrad mit dessen Frau, meine Cousine Nina mit ihrem Mann und ihrem Baby und so weiter. Alles war wunderbar, und die Gäste amüsierten sich prächtig. Wir
Weitere Kostenlose Bücher