Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
Zug ab. Unter den Studenten, die sie begleiteten, war Andrej Sacharow, der künftige Nobelpreisträger, der sich ein Jahr nach Lew und Sweta an der Universität immatrikuliert hatte, nach Swetas Unterbrechung ihres Studiums nun jedoch im selben Jahr wie sie war. Den ersten Halt machte der Zug in Murom, einem alten Provinzstädtchen 300 Kilometer östlich von Moskau, wo Sacharow bei einer Mutter und Tochter übernachtete, die das Kriegschaos für sich zu nutzen verstanden: Tagsüber stahl die Tochter Zucker aus dem Laden, in dem sie arbeitete, und nachts empfing ihre Mutter »eine Reihe von Soldaten«. Der Ort war überfüllt mit Verwundeten, die auf die Evakuierung nach Osten warteten. Viele lagen auf Bahren im Bahnhofssaal oder gar im Schnee neben den Bahngleisen. Frauen aus den umliegenden Dörfern kamen zum Bahnhof, um Lebensmittel und Tabak zu verkaufen. Andere hielten nach ihren Söhnen und Ehemännern Ausschau und befragten die verwundeten Soldaten nach dem Verbleib der Vermissten, oder sie drückten den Patienten Briefe für den Fall in die Hand, dass sie den Gesuchten in einem Lazarett begegneten.
Von Murom fuhren die Studenten weiter nach Osten zum Ural und reisten dann gen Süden über die gefrorene Kasachensteppe nach Aschchabad, der staubigen Hauptstadt der Turkmenischen Republik, unweit der sowjetisch-iranischen Grenze. Hier sollte diePhysikalische Fakultät ihre Arbeit wieder aufnehmen. Die Reise dauerte einen Monat, und in den Waggons – jeder enthielt einen Ofen und doppelstöckige Pritschen für vierzig Personen – »bildete sich … ein besonderer Zug-Alltag heraus«, erinnerte sich Sacharow, »mit Anführern, Schwätzern und Schweigern, Panikmachern, Organisierern, Vielfraßen, Faulenzern und Geschäftigen«. Sweta dürfte zu den Stillen und Fleißigen gehört haben. In Aschchabad, wo die Vorlesungen im Dezember begannen, musste sie sich anstrengen, um die Unterbrechung ihres Studiums vor dem Krieg wettzumachen. Sie besuchte Kurse in Chemie und Oszillationsphysik, einem schwierigen theoretischen Thema, für das es keine praktische Ausbildung gab, weshalb sie sich oft stundenlang in der Bibliothek vergraben musste. Außerdem arbeitete sie als Tellerwäscherin in einer Cafeteria, um sich selbst und ihre Eltern zu versorgen. Den größten Teil des Winters und das folgende Frühjahr hindurch litt Sweta an Malaria, einer damals in Zentralasien alltäglichen Krankheit. »Dadurch war ich so ermattet, dass es mir sogar schwerfiel, etwas zu trinken«, schrieb sie später. Gegen Fieber kämpfend, erschöpft und mit der Zeit »ziemlich gelbsüchtig«, hatte sie Mühe, sich nicht unterkriegen zu lassen. Aber es gelang ihr.
Nach Swetas Universitätsabschluss teilte man sie dem Volkskommissariat für Kriegsmaterial zu, doch mit Hilfe ihres Vaters wurde sie zum Wissenschaftlichen Forschungsinstitut für die Kunstharzbranche versetzt, das man damals in ein Chemiewerk in Chromnik bei Swerdlowsk verlegt hatte. Dort arbeitete sie seit August 1942 als Industriephysikerin im »physikalischen und mechanischen Testlabor«, wo man Elf-Stunden-Schichten absolvierte. Sweta fiel es zunächst schwer, sich zu orientieren, wie sie später schrieb:
Ich war in einem seltsamen, mir unvertrauten Labor und wusste nicht, womit ich beginnen und wo ich Platz nehmen sollte. Außerdem hatte ich Angst vor den Maschinen und wusste nicht das Geringste über Gummi. Deshalb rettete ich mich in die Bibliothek … wo ich den halben Tag damit verbrachte, russische Artikel und Berichte zu lesen, während ich mich in der zweitenTageshälfte mit der englischen Sprache herumschlug. Ich trat einem Englisch-Sprachclub bei, obwohl ich das Fach nicht in Aschchabad studiert hatte. Im Großen und Ganzen war es eine recht ermutigende Zeit. Nach den Dampfwolken von Aschchabad, den afghanischen Winden, dem von der Wüste her fein wie Staub herangewehten Sand und nach den Blättern, die im August ohne jedes Zeichen eines goldenen Herbstes fielen, glich der Ural dem Paradies auf Erden – Kiefern, Birken, Pilze, Regen. Ich tauschte Briefe mit der ganzen Welt aus … Jeden Tag erhielt ich zwei oder drei, und ich wusste, dass ich bald wieder daheim sein würde.
Das Institut bereitete sich auf die Rückkehr nach Moskau vor, wo sich die deutsche Bedrohung nach einer sowjetischen Gegenoffensive im Jahr 1942 aufgelöst hatte. Die Rote Armee war dringend auf die Forschungskompetenz des Instituts angewiesen, damit die Reifenproduktion angekurbelt werden
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