Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
hinaus auf die Gleise führte. Die Waggons waren für zwanzig Kühe oder ein Dutzend Pferde gebaut worden, doch man stopfte sechzig Gefangene in jeden von ihnen. »Politische« wie Lew – hauptsächlich Soldaten, die in der deutschen Besatzungszone in Gefangenschaft geraten waren – wurden zusammen mit gemeinen Verbrechern transportiert. Die Kriminellen, organisiert und gewalttätig, nahmen rasch die kleinen eisernen Heizöfen in Besitz. Lew und die anderen Männer, die man alle in ihrer Sommerkleidung verhaftet hatte, drängten sich dicht in den unbeheizten Ecken der zugigen Waggons zusammen, um einander zu wärmen.
Die Häftlinge erhielten pro Tag 200 Gramm Brot und gesalzenen Fisch, aber fast kein Wasser. Viele von ihnen erkrankten oder verdursteten sogar. Die Toten und Sterbenden wurden aus den Waggons geworfen. Niemand begriff, weshalb die Wärter ihnen Trinkwasser vorenthielten. Es gab zahlreiche Gulagvorschriften über die angemessene Versorgung von Häftlingen während eines Transports, und es war unsinnig, sie sterben zu lassen, da sie als Sklavenarbeiter einen ökonomischen Wert besaßen. Die wahrscheinlichste Erklärung besagt, dass es den Wärtern einfach lästig war, schwere Wassereimer zu den Wagen zu schleppen. Hinzu kam vermutlich ein Element der Grausamkeit, das mit dem auf Hierarchie und Kontrolle beruhenden Profitsystem der Aufseher zu tun hatte. Die Wachleute beauftragten die Kriminellen, die Politischen im Austauschfür bessere Rationen und Wasser zu misshandeln und zu bestehlen. Außerdem redeten sie den Kriminellen ein, diese seien »wie wir« und würden nur »vorübergehend festgehalten«, während die Politischen »Volksfeinde« seien und Schläge verdient hätten. Lew war entsetzt über die Brutalität der Kriminellen. Seiner Meinung nach waren sie »keine Menschen mehr, sondern ein neues biologisches Phänomen, zynisch und unbarmherzig bis an die Grenze des Sadismus«. Die Aufseher standen den Kriminellen kaum nach. Sie kamen ein- oder zweimal am Tag in die Waggons, um eine »Durchsuchung« vorzunehmen. Nachdem sie die Politischen aussortiert hatten, schlugen sie mit allen greifbaren Objekten – Eisenstangen, Hämmern, Holzhämmern und -brettern sowie Stöcken – auf ihre Opfer ein, um den Kriminellen ein Beispiel zu geben. Bei einer derartigen »Durchsuchung« wurde Lew schwer an den Nieren verletzt und bei einer anderen so heftig am Kopf getroffen, dass eines seiner Trommelfelle platzte.
Jenseits von Kotlas fuhr der Zug im Schneckentempo weiter und hielt gelegentlich an, damit ein weiterer toter oder sterbender Häftling hinausgeworfen werden konnte. Die Schienen waren von Gulag-Insassen schlecht verlegt worden und ließen höhere Geschwindigkeiten nicht ohne Unfallrisiko zu. An der ganzen Strecke entlang hatten früher Arbeitslager existiert, deren Häftlinge die Bahn bauten. Durch die winzigen Fenster des Viehwaggons konnte Lew aus seiner Ecke auf einer der oberen Pritschen die Überreste der Lager erkennen: Stacheldrahtzäune und Wachtürme zwischen den Kiefern. In Mikun, Irajol und Kamenka mussten die Gefangenen unter Bewachung zu einem »Sanitätspunkt« marschieren, wo sie sich in der Eiseskälte auszuziehen und unter Desinfektionsduschen zu stellen hatten. Männer mit geschwollenen Beinen oder rissiger und schuppiger Haut an den Hüften (den ersten Anzeichen von Pellagra, einer durch Vitaminmangel hervorgerufenen Erkrankung) durften den Zug nicht wieder besteigen. Vielleicht wurden sie in ein Krankenhaus gebracht, oder vielleicht erschoss man sie.
Nach dreimonatiger Reise traf Lews Konvoi im März 1946 in Petschora ein. Der Frühling hatte noch nicht begonnen, denn diedunklen Polarwinter dauern in diesen nördlichen Breiten neun Monate. Der Fluss war noch zugefroren und der Boden mit Schnee bedeckt. Nach der langen Fahrt litten die Häftlinge unter Erschöpfung. Selbst Lew, ein kräftiger Mann, der sich an die Entbehrungen in deutschen Konzentrationslagern gewöhnt hatte, war dünn und schwach. Viele Häftlinge, mitunter nur noch Haut und Knochen, schafften es kaum, aus den Waggons auf die Gleise zu steigen.
Die Häftlinge wurden ins Übergangslager gebracht, ein mit Stacheldraht eingezäuntes Gelände in der Nähe des Bahnhofs mit drei Baracken, einem Isolierblock (für Bestrafungen), einer Krankenstation samt Friedhof und einem kleinen Arbeitsbereich. Man duschte und entlauste sie, rasierte ihnen den Kopf und teilte sie in Gruppen ein: Die Kranken (die überwiegend an
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