Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
hinlegen oder schlafen. Die Vernehmungen fanden abends statt. Alle wurden der Reihe nach zum Verhör geführt und drei oder vier Stunden später zurückgebracht, wonach sie bis zum morgendlichen Wecken ein wenig schlafen konnten. Lew wurde länger als einen Monat bearbeitet. Die SMERSCH-Ermittler warfen ihm vor, für die Deutschen spioniert zu haben. Ihr einziges Indiz war die Aussage eines seiner Mitgefangenen, der gehört hatte, wie er mit dem Hauptmann in Katyn deutsch sprach. Lew gab zu, als Dolmetscher gearbeitet zu haben, doch sei er nie Spion gewesen, sondern habe gegen die Deutschen agiert. Naiverweise hielt er an der Überzeugung fest, dass man ihn freilassen würde, wenn er die Wahrheit sagte. Er glaubte an die sowjetische Gerechtigkeit, denn hatte er nicht genau dafür gekämpft? Was dann geschah, machte seinen Glauben zunichte. Nach mehreren Nächten drohten die Ermittler, Lew zu erschießen, falls er kein Geständnis unterzeichnete. Er weigerte sich und wurde immer wieder geschlagen. »Ich hatte keine Angst vorm Sterben«, erzählte er, »aber manchmal verzweifelte ich, denn ich fürchtete, dass die Menschen, die ich liebte, mich für schuldig halten könnten.«
Lew dachte häufig an Sweta. Es kam ihm unwahrscheinlich vor, dass er überleben und sie je wiedersehen würde. Am 10. September1945 , Swetas 28. Geburtstag, auf dem Tiefpunkt der Verhöre, ließ Lew die Hoffnung fahren und fand sich damit ab, sich für immer von ihr zu verabschieden.
In den frühen Morgenstunden nach einer besonders aufreibenden Befragung schlief Lew unruhig und hatte einen lebhaften Traum, den er folgendermaßen beschrieb:
Ich döste nach einem Verhör kurz vor Tagesanbruch und hatte einen Traum. Er war sehr klar, sehr deutlich umrissen, als wäre ich allein irgendwohin unterwegs. Ich drehte mich um und sah Sweta hinter mir. Sie war ganz in Weiß gekleidet und kniete auf dem Boden neben einem kleinen Mädchen, das ebenfalls weiße Sachen anhatte, und Sweta brachte etwas am Kleid des Kindes in Ordnung. Es war sehr hell, sehr klar, und dann wachte ich auf.
Nachdem es den Vernehmern nicht gelungen war, Lew zur Unterzeichnung eines Geständnisses zu zwingen, brachten sie ihn durch einen Trick dazu, ein Schuldbekenntnis zu unterschreiben. Sie versicherten ihm, dass ein Militärgericht ihn für unschuldig befinden werde, und ließen ihn ein Vernehmungsprotokoll unterzeichnen, das Lew nicht gründlich überprüfte. Er vertraute dem Ermittler, der ihm das Dokument zeigte und ihm den angeblichen Inhalt vorlas. Lews Unterschrift, zehn kleine Buchstaben am Ende der Seite, sollten den Verlauf seines Lebens ändern. Vielleicht war er erschöpft oder naiv, denn er hatte nicht bemerkt, dass der Offizier ihm den Teil des Protokolls, in dem er Landesverrat gestand, nicht vorgelesen hatte. Erst bei der Verhandlung wurde er sich seines Fehlers bewusst.
Am 19. November 1945 verurteilte ein dreiköpfiges Militärgericht der Achten Gardearmee Lew in Weimar wegen Hochverrats zum Tode, und zwar nach Artikel 58–1 (b) des Strafgesetzbuches, der nur für sowjetische Soldaten galt. Das Urteil wurde sofort in zehn Jahre Haft in einem Arbeits-Besserungslager umgewandelt – eine Konzession, die sowjetische Richter im Interesse eines auf Sklavenarbeit basierenden Systems häufig machten. Die Verhandlung hatte ganze zwanzig Minuten gedauert.
Im Dezember verlegte man Lew in ein Militärgefängnis in Frankfurt an der Oder. Dann wurde er mit einem unter Bewachung stehenden Konvoi zurück in die Sowjetunion geschickt, wo er die dreimonatige Reise nach Norden zum Arbeitslager Petschora antrat.
6 Tanja war von den Militärbehörden, die Krankenschwestern für die Front benötigten, bedrängt worden, sich freiwillig zu melden. Hätte sie sich geweigert, wären sie und ihre ganze Familie der Gefahr einer Verhaftung ausgesetzt gewesen.
7 Eine Straftechnik, mit der die Genfer Konvention umgangen werden sollte, die Kriegsgefangene (wenn auch keine sowjetischen) in deutschen Konzentrationslagern angeblich schützte.
3
Der Konvoi rollte mühsam per Zug von Minsk nordwärts nach Wologda, Kotlas und Petschora, tief in den Wäldern nahe des Polarkreises, wo Lew seine lange Strafe ableisten sollte. Für die Häftlingszüge benutzte man Viehwaggons. Eine Doppelreihe aus Holzpritschen säumte jeden Wagen zu beiden Seiten der Schiebetüren. In der Mitte befand sich eine »Toilette« in Form eines breiten Rohres, das aus dem Boden hervorragte und
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