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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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wollten. Gleichwohl konnte schließlich Kohle aus Workuta in sowjetische Städte und Industriebetriebe geschafft werden: 200 000 Tonnen pro Monat im Jahr 1945.
    Petschora entwickelte sich zum Hauptindustriezentrum der Region. Seine Lage am Schnittpunkt zwischen der Bahnstrecke und dem Fluss Petschora machte es zum Mittelpunkt der Holzverarbeitung, der Bahninstandhaltung und der Schiffbauindustrie. 1937 als Gulagsiedlung gegründet, war Petschora zur Zeit von Lews Ankunft im Jahr 1946 ein kleiner, verfallener Ort, der von ungefähr 10 000 Häftlingen und freien Bürgern bewohnt wurde (siehe Karte auf S. 346). In der Nähe des Bahnhofs lag ein Viertel mit verwinkelten, schmalen Gassen und schäbigen Hütten, das man wegen seiner »asiatischen« Erscheinung und der dort ansässigen chinesischen Einwanderer als »Shanghai« bezeichnete. Den Hauptbestandteil von Petschora – zwischen dem Bahnhof und dem Holzkombinat – bildete die mit Stacheldraht umzäunte Industriezone am Flussufer. Vom Übergangslager muss Lew durch die lange Hauptallee, Sowjetstraße genannt, in einem von Wachleuten mit Hunden flankierten Konvoi zum Holzkombinat marschiert sein, dessen Eingang sich am Ende der Straße des 8. März (Internationaler Frauentag) befand. Die Sowjetstraße war ein breiter Feldweg mit Holzbrettern als Gehsteig. Als Straßenbeleuchtung dienten die Suchscheinwerferder Wachtürme um die Gefängniszone. Die Lagerchefs hatten so gut wie keine Autos oder Motorräder, sondern mussten sich mit Pferden begnügen. Es gab keine Steingebäude, sondern nur Holzhäuser, die zur besseren Isolierung gegen die Polarwinde halb im Boden vergraben waren, und keine Innentoiletten (die einzige Ausnahme war im Haus des Lagerkommandanten zu finden); niemand hatte fließendes Wasser, und die Brunnen waren in kleinen Pavillons untergebracht, damit sie während des langen Winters, in dem die Temperaturen regelmäßig auf minus 45 Grad fielen, nicht zufroren. Außer wenigen Läden gab es nur ein kleines Postamt (das Wodka verkaufte) im Shanghai-Viertel.
    Lew durchschritt das Tor zum Holzkombinat und betrat die Industriezone, sein Gefängnis für die folgenden zehn Jahre (siehe Karte auf S. 344 f.). Es war ein rechteckiges Areal von der Größe eines Dorfes – 52 Hektar, die von einem hohen Stacheldrahtzaun und Wachtürmen mit Scheinwerfern umgeben waren. Im Innern standen ungefähr fünfzig Häuser, hauptsächlich »provisorische Holzbauten«, die man anscheinend ohne jegliche Planung errichtet und »wahllos« über die Zone verteilt hatte. Es gab verschiedene Werkstätten, eine Trocknungsanlage, Holzspeicher, Sägemühlen, Ställe, Kantinen, Baracken, ein Clubhaus für Wärter und freie Arbeiter, eine Siedlung aus einstöckigen, in den Boden gesenkten Wohnhäusern, ein Badehaus, eine Feuerwehrstation mit Pferd und Wagen sowie eine leichte Eisenbahn mit einem Ladebereich. Vor sich, in Richtung Fluss, sah Lew den roten, das Lager überragenden Ziegelschornstein des Kraftwerks.
    Man zählte die Männer aus Lews Konvoi im Ladebereich der Bahn, wo die Endprodukte des Holzkombinats (Möbelstücke und Fertighäuser) in Züge verfrachtet wurden. Dann marschierten sie in die Baracken der 2. Kolonie oder Arbeitsbrigade ( rabotschaja kolonna ) , die in einem speziellen Gefängnissektor mit eigenem Stacheldrahtzaun und Wachhäuschen innerhalb der Industriezone lag.
    Die 2. Kolonie umfasste zehn Baracken mit rund 800 Häftlingen. Alle Baracken sahen gleich aus: lange einstöckige Holzgebäude mit zwei Reihen Etagenbetten für jeweils zwei Mann auf jederEbene (im Gulagsprachgebrauch bekannt als »wagonki«, weil sie den Schlafwagenkojen in Personenzügen ähnelten); im Durchgang zwischen den Reihen standen Tische, Bänke und Holzöfen. Die an der Decke baumelnden 40-Watt-Birnen verbreiteten ein trübes gelbes Licht. Die Matratzen und Kissen waren mit Holzspänen gefüllt. Lews Baracke hatte den Vorteil, stets warm zu sein, da die Wärter den Insassen erlaubten, Holzreste für die Öfen mitzubringen. Die Baracke wurde nachts nicht abgeschlossen, und die Häftlinge durften kommen und gehen (der Toilettenblock befand sich außerhalb), solange sie sich dem Stacheldraht nicht näherten (wo sie sonst erschossen würden).
    Lew belegte ein Bett in der unteren Etage beim Fenster an einem Ende der Behausung, einer der ältesten Baracken der Kolonie. Einer seiner Nachbarn war ein junger »Politischer« aus Lwow in der Westukraine, ein kleiner, schlanker Mann mit

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