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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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zurückkehren wollten. Der Amerikaner brachte sie zu einem nahe gelegenen Haus, in dem fünf Panzerfahrer einquartiert waren. Sie ließen die Russen auf dem Fußboden schlafen und teilten ihre Rationen mit ihnen. Lew, der von Brot und Haferschleim gelebt hatte, dachte, das Essen habe »so gut geschmeckt wie eine Mahlzeit im Restaurant«. Am folgenden Morgen wurden Lew und Alexej nach Eisleben geschickt, das gerade befreit worden war und wo ihnen die US-Militärbehörden helfen würden.
    In Eisleben verhörte sie ein amerikanischer Major, der mit Lew deutsch sprach. Als er herausfand, dass Lew Atomphysiker war, versuchte er, ihn zur Auswanderung in die Vereinigten Staaten zu überreden, und konnte nicht verstehen, weshalb der Russe das Angebot ablehnte. »Warum denn nicht?«, fragte er. »In Russland habt ihr Kommunismus, und im Kommunismus gibt es keine Demokratie.« Wie sehr sich Lews politische Ansichten während des Krieges gewandelt hatten, ließ seine Antwort erkennen, es gebe »keinen Kommunismus in Russland«, sondern »nur gerade genug Freiheit für einen klugen Menschen, um sich durchzuschlagen«. Er versuchte, sich nicht in eine politische Diskussion hineinziehen zu lassen, denn sein wahrer Grund dafür, dass er ein besseres Leben inAmerika verschmähte, hatte nichts mit Politik zu tun: Er wollte einfach zu den Menschen heimkehren, die er liebte. Alles, was er auf der Welt besaß, war in Russland: »Swetlana und ihre Familie, Tante Olga und Tante Katja, Onkel Nikita – dies waren die Menschen, die mir am Herzen lagen.« Er hatte keine Ahnung, ob Sweta noch lebte oder ob sie so lange auf ihn gewartet hatte, aber er wusste, dass er seinem Herzen folgen musste. »Selbst wenn nur eine kleine Chance bestand, dass sie noch lebte, wie hätte ich das missachten und nach Amerika reisen können?«
    Der Major gab den Russen einen Gutschein für ein Hotel, in dem man befreite Kriegsgefangene unterbrachte. Der Bürgermeister des Ortes, ein früherer Kommunist, begleitete sie zu einem Geschäft, um ihnen auf städtische Kosten Mäntel und Hüte zu kaufen und neue Anzüge für sie zu bestellen. In den beiden folgenden Monaten blieben Lew und Alexej in Eisleben. Vom Fenster ihres Zimmers aus blickte man auf Martin Luthers Geburtshaus. Diese Monate waren für sie wie Urlaub. In Eisleben betrieb man vier kostenlose Kantinen für das amerikanische Militärpersonal und für befreite Kriegsgefangene, und nach Jahren des Hungers in den Konzentrationslagern achtete Lew darauf, sämtliche Mahlzeiten zu probieren. »Wir aßen zwölfmal am Tag!« Das einzige Problem war, dass er die Kantinen rechtzeitig zu den Mahlzeiten aufsuchen musste. Diese Fresserei hielt mehrere Tage lang an, bis Lew die Furcht vor dem Hunger überwunden hatte.
    Anfang Mai veranstalteten die amerikanischen Soldaten Siegesparaden in Eisleben. Kurz darauf trafen Vertreter der Roten Armee ein, um die Rückführung ihrer Militärs zu organisieren. Am Tag der Abreise, dem 8. Juni, stellten die Amerikaner einen Lastwagen mit offenem Verdeck bereit, der mit der sowjetischen und der US-Fahne sowie einem Banner mit der Aufschrift »Happy Return!« (»Glückliche Heimfahrt!«) geschmückt war. Der Wagen beförderte die Männer nach Torgau an der Elbe. Dort überquerten sie den Fluss und erreichten die sowjetische Besatzungszone. Allerdings wurden sie von den Sowjetbehörden weniger freundlich aufgenommen, denn diese behandelten sie als Gefangene. Bewaffnete Wachen teiltendie zurückgekehrten Soldaten in Gruppen von jeweils dreißig Mann auf, bevor man sie mit Lastwagen nach Weimar brachte und in einen Gefängnisblock neben dem Hauptquartier der Achten Gardearmee steckte. Das Gefängnis wurde von einer besonderen NKWD-Einheit, bekannt als SMERSCH (ein Akronym für »Tod den Spionen!«), verwaltet, die den Auftrag hatte, sowjetische Kollaborateure mit den Deutschen ausfindig zu machen.
    Lews Glück war aufgebraucht. Er musste sich eine Zelle mit acht anderen Männern teilen. Man befahl ihnen, sich nackt auszuziehen, unterzog sie einer Leibesvisitation und nahm ihnen all ihre persönlichen Habseligkeiten weg. Lew musste den Gegenstand hergeben, der ihm am meisten bedeutete und den er seit vier Jahren in der Tasche trug: die Adressenliste, die Swetas Vater ihm anvertraut hatte. Es war nur ein Stück Papier, doch das Einzige, wodurch er sich mit ihr verbunden fühlte.
    Tagsüber wurden die Männer gezwungen, auf dem Fußboden zu sitzen; sie durften sich jedoch nicht

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