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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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Pellagra und Skorbut litten) wurden sofort in die Krankenstation geschickt und die Übrigen je nach ihrem physischen Zustand verschiedenen Tätigkeiten und Einrichtungen zugewiesen. Lew landete im Holzkombinat ( lessokombinat ) , der Hauptindustriezone von Petschora, wo Baumstämme, die man von Arbeitslagern oder Kolonien in den Wäldern weiter nördlich hinunterflößte, am Ufer geborgen und zu Möbeln oder Hütten für die Gulagsiedlungen an der Eisenbahnstrecke zwischen Kotlas und dem wichtigen Bergbaugebiet Workuta verarbeitet wurden.
    Die Eisenbahn war die Lebensader von Petschora, der Schlüssel zur Kolonisierung und wirtschaftlichen Ausbeutung des Nordens durch den Gulag. Im 19. Jahrhundert hatte die Region aus Wäldern bestanden, die dünn von den Komi-Stämmen besiedelt worden waren. Die Entdeckung enormer Kohle-, Öl- und sonstiger Mineralreserven im Petschora- und Workutabecken hatte den Norden 1929/30 zu einem Gebiet von höchster industrieller und strategischer Bedeutung für die Sowjetunion werden lassen. Bis dahin hatte das Land seinen Brennstoff hauptsächlich aus dem Donezbecken und dem Kaukasus im Südosten bezogen. Diese lagen jedoch, militärisch und politisch gesehen, in einer verwundbaren Region (in den Jahren 1918–1920 hatte die neugeborene Sowjetrepublik sie im Russischen Bürgerkrieg an die Weißen und deren westliche Alliierte verloren).Die Erschließung der immensen Kohlevorräte von Workuta würde nicht nur die Industrialisierung des Landes fördern, sondern auch seine Treibstoffversorgung für den Fall einer weiteren ausländischen Invasion sicherstellen, denn die abgelegenen arktischen Gebiete waren praktisch unangreifbar.
    Eine Zeitlang spielte die Sowjetregierung mit dem Gedanken, die Flüsse zum Transport für Kohle aus Workuta zu benutzen, doch die Route war lang und verworren, ganz abgesehen davon, dass die Petschora und die Ust-Ussa neun Monate des Jahres unter einer Eisdecke lagen. Dann, im Jahr1934 , ging die Regierung daran, eine Eisenbahnlinie zwischen Leningrad und Kotlas, Uchta, Petschora und Workuta zu bauen (siehe Karte auf S. 343). Bis 1939 waren Arbeitslager und kleinere Gulagkolonien an der gesamten Planstrecke entlang errichtet worden. Laut dem Zensus jenes Jahres befanden sich 131 930 Häftlinge (davon 18 647 Frauen) in diesen Lagern und Kolonien. Da jedoch viele andere in Zelten hausten oder unter freiem Himmel neben der Strecke schliefen, wurden sie vom Zensus nicht erfasst (allerdings lebten sie nicht lange). Sämtliche Arbeiten wurden per Hand erledigt – das Fällen der Bäume, das Einebnen des Geländes, das Verlegen der Schienen –, und dies rund um die Uhr. In den langen Stunden der Dunkelheit – im Winter mehr als zwanzig pro Tag – beleuchtete man die Bauplätze durch Lagerfeuer aus Holzresten (das Holz wurde von Häftlingen gesammelt, die für die Arbeiten an der Bahn als zu schwach galten). In den drei Sommermonaten war es Tag und Nacht hell.
    Der Einmarsch der Deutschen machte es erforderlich, den Eisenbahnbau zu beschleunigen. Ende 1941 hatten die Angreifer den größten Teil des Donezbeckens besetzt, das 55 Prozent der sowjetischen Kohle lieferte, und 1942 schoben sie sich stetig in den Kaukasus vor, wodurch die Ölversorgung des Landes bedroht wurde. Die Verlegung der Strecke nach Workuta erhielt höchste Priorität, denn es ging um das Überleben des Landes, und entsprechend standen die Gulagbosse unter immensem Druck, die Bahnlinie in Rekordzeit fertigzustellen. 1942 arbeiteten 157 000 Häftlinge pausenlos an der Strecke. Sie schliefen in unbeheizten Zelten oder beiMinustemperaturen im Freien. Alle waren erschöpft, und Hunderte starben täglich an Kälte, Hunger und Krankheit. Um den Bau voranzutreiben, platzierten sie die Schienen direkt auf der Erde, ohne sie durch Geröll oder Sand zu stabilisieren, umrundeten Seen und Sümpfe, statt den dortigen Boden urbar zu machen, und verlegten Gleise sogar auf Eis (Brücken konnten später gebaut werden). Die Strecke wies so viele gefährliche Kurven und Hänge auf, dass Züge häufig entgleisten, was zu Verhaftungen wegen »Sabotage« führte. Die wichtige Brücke über die Petschora – zwischen dem Ort Petschora und Koschwa – wurde so hastig (mit provisorischen Holz- statt Stahl- und Eisenträgern) errichtet, dass die ersten Züge, die sie 1942 überquerten, weniger als fünf Kilometer in der Stunde fahren mussten, wenn sie das akute Risiko, infolge der Vibrationen abzustürzen, vermeiden

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