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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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400 Gramm, wenn es ihnen nicht gelang. Um seine Tagesnorm zu schaffen, musste Lew mindestens 60 Kubikmeter Holz (genug, um eine kleine Garage zu füllen) vom Fluss zum Holzkombinat hinaufbefördern. Wenn er die Norm übertraf, erhielt er 800 Gramm Brot und zusätzlich »eine Roggenpastete mit einer Füllung ohne jeglichen Geschmack oder mit gar keiner Füllung«. Jeden Morgen gab man den Häftlingen eine Schüssel dünnen Haferbreis, eine Tasse Tee, 15 Gramm Zucker (die Stücke wurden sorgfältig gewogen) und ein Stück Hering; zum Mittagessen bekamen sie normalerweise eine Schüssel Kohlsuppe mit etwas Fleisch oder Fisch und zum Abendessen eine weitere Schüssel Brei und noch eine Tasse Tee. Dies reichte nicht aus, um ein Mitglied der Schleppermannschaften bei Kräften zu halten, weshalb die Krankheits- und Todesraten sehr hoch waren. In den Jahren 1945/46 lag mehr als ein Drittel der 1600 Lagerinsassen in der Krankenstation, einem aus Quarantänebaracken bestehenden Komplex außerhalb der Hauptgefängniszone des Holzkombinats. Damals arbeitete dort nur ein einziger Arzt. Laut einem Häftling, der einer Gruppe von Totengräbern angehörte, beerdigte man täglich ein Dutzend Männer auf einem Friedhof hinter der Krankenstation.Die Arbeitsbedingungen der Schlepperteams waren so unmenschlich, dass sich sogar manche Aufseher unbehaglich fühlten. »Uns scheint es egal zu sein, ob sie leben oder nicht«, klagte ein Wachmann auf einer Parteiversammlung im Holzkombinat. »Wir lassen sie im eiskalten Wasser stehen, bis sie krank werden, und dann, wenn sie nicht mehr arbeiten können, lassen wir sie in der Klinik sterben.«
    Nach drei Monaten als Schlepper war auch Lew der Erschöpfung nahe und psychisch gebrochen. Bei ihrer ersten Begegnung, so berichtete Terlezki später, habe Lew ausgesehen »wie ein Bauer, der von einem Trecker überfahren wurde«. Keine Spur mehr von dem energiegeladenen Jungen, der zehn Jahre zuvor in die Istra gesprungen war.
    Von Terlezki ermutigt, ging Lew nach seiner Schicht gewöhnlich in die Holztrocknungsanlage, um sich aufzuwärmen. Innerhalb der Industriezone gab es keine bewachten Konvois – die Häftlinge machten sich selbständig zu ihren Arbeitsplätzen auf –, und wenn Lew am Förderband oder in der Nähe der Sägemühle eingesetzt worden war, hatte er am Ende jedes Tages ein wenig Zeit, auf dem Rückweg zu den Baracken der 2. Kolonie, wo die Gefangenen am Wachhaus registriert wurden, in der Trocknungsanlage vorbeizuschauen. Bei einem dieser Besuche wurde Lew vor der Arbeit gerettet, die ihn sonst wahrscheinlich das Leben gekostet hätte.
     

    Schleppermannschaft am Holzkombinat
     
    Der Leiter des Forschungslabors, das man der Trocknungsanlage angegliedert hatte, war Georgi Strelkow, ein altgedienter sibirischer Bolschewik der Bürgerkriegszeit und ein einstmals hoher sowjetischer Industrieller, der dem Goldbergwerkstrust in Jakutien, einem Teil des Volkskommissariats für Schwerindustrie, bis zu seiner Verhaftung im Jahr 1937 vorgestanden hatte. Beunruhigt durch Meldungen über hungernde Häftlinge in den Kolyma-Goldbergwerken im fernen Nordosten Sibiriens, hatte er zwei Schiffe mit Lebensmittelvorräten ausgesandt, die das NKWD abfing. Es ließ die Nahrungsmittel ausladen und die Schiffe stattdessen mit neuen Häftlingen füllen. Das NKWD scherte sich nicht darum, wie viele Menschen starben, und bezichtigte Strelkow, Lebensmittel zu verschwenden.Man verurteilte ihn wegen »konterrevolutionärer Aktivität« zum Tode durch Erschießen, »begnadigte« ihn dann jedoch zu 25 Jahren ohne das Recht auf Korrespondenz im Arbeitslager Petschora. Seine Fachkenntnis wurde von den Gulagbehörden in Petschora so hoch geschätzt, dass sie ihm gestatteten, Experimente im Holzkombinat durchzuführen, obwohl er als Häftling mit einer Strafe von 25 Jahren schwere manuelle Arbeit hätte verrichten sollen. Sie erlaubten Strelkow sogar, allein im Labor statt in den Baracken zu wohnen, weil er so häufig dafür benötigt wurde, das eine oder andere technische Problem innerhalb der Industriezone zu lösen. Damit nicht genug, er durfte sogar einen Anzug anstelle einer Uniform tragen.
    Strelkow war streng und entschieden, aber auch gutherzig. Dank seines Einflusses im Holzkombinat hatte er viele Häftlinge der Schlepperteams vor totaler Erschöpfung gerettet, indem er sie in die Trocknungsanlage oder in die Werkstätten versetzen ließ. Allerdings führten seine Interventionen häufig zu Problemen mit

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