Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
wüsste, dass Handlungen nach ihren Motiven und nicht nach ihren Ergebnissen beurteilt werden sollten, würde ich Dir Vorwürfe wegen Deines Schweigens machen.
Erinnerst Du Dich an jenen September, als Du sagtest, auf jene Weise sollten wir uns nicht treffen, während ich Dank für die Woche verspürte, die uns vergönnt war? Jetzt ist es das Gleiche, Lew. Wenn es anders nicht sein kann, dann ist dies besser als nichts. Wir sind beide 29 Jahre alt, wir haben uns vor elf Jahren kennengelernt und sind uns seit fünf Jahren nicht mehr begegnet. Es ist schrecklich, solche Ziffern zu nennen, doch die Zeit vergeht, Lew. Und ich weiß, Du wirst tun, was Du kannst, damit wir zusammenkommen, bevor weitere fünf Jahre vergehen.
Ich werde nun hartnäckig, Lew. Wie oft habe ich mir gewünscht, mich in Deine Arme zu kuscheln, aber ich konnte mich nur zu der leeren Wand vor mir drehen. Es war, als könne ich nicht atmen. Doch die Zeit verging, und ich riss mich zusammen. Wir werden dies durchstehen, Lew.
Ich habe Dir versprochen, dass ich die Universität abschließen würde, und ich habe mein Versprechen gehalten. Wir machten das Abschlussexamen im Sommer 1942 (nach dem vierten Studienjahr), wurden jedoch für fast sechs Monate umgesiedelt – von Moskau nach Aschchabad, nach Swerdlowsk …
Bald werde ich im physikalischen und mechanischen Testlabor in »Papas« Institut (dem Wissenschaftlichen Forschungsinstitut für die Reifenindustrie 9 ) mein viertes Jahr hinter mich bringen (seit meinem Geburtstag 1942). Wie sehr ich auch versucht habe, die Gummiforschung zu vermeiden, bin ich doch zu ihr zurückgekehrt. Bist Du nicht froh darüber? Meine Aufgabe ist es, neue und bessere Testmethoden zu finden (die Details sind zu zahlreich für einen einzigen Brief, deshalb werde ich sie Dir nach und nach mitteilen). Mein Abteilungsleiter ist sehr tüchtig, aber im Grunde kein Administrator, und wir beide gemeinsam beaufsichtigen 42 Mädchen ohne großen Erfolg. Es gibt ein neues Aufbaustudium in unserem Institut, und die erste Kandidatin ist – Swetlana Alexandrowna! Ich habe meine Prüfungen (im Mai und Juni) mit fliegenden Fahnen bestanden, besser als alle anderen an der Universität (hauptsächlich wegen meines Werdegangs in Naturwissenschaften, nicht wegen meiner Begabungen) … Bist Du glücklich, Ljowa?
Ich sollte eigentlich am 1. Juli in Urlaub gehen, aber unser akademischer Sekretär hält mich hier zurück, bis ich einen Artikel für die Zeitschrift einreiche. Ich zermartere mir das Hirn und weiß nicht, wie ich es jemals schaffen soll (der Artikel handelt von Experimenten zur Plastizität von Gummi und Gummiverbindungen). Mama und Alika [Swetas Neffe] sind schon seit einem Monat auf der Datscha – wieder an der Istra, aber diesmal ein wenig näher bei Moskau. Alika ist schon sechs. Er kann lesen und ist von Großbuchstaben fasziniert. Anscheinend hat er alle Fertigkeiten und Talente von Jara geerbt. Er zeichnet, stellt »Experimente« an, redet über die Art und Weise, wie Wörter gesprochen und geschrieben werden, und kennt bereits viele Gedichte. Er baut ein Herbarium und sammelt Käfer, Fliegen und Raupen, und er singt Lieder – also ist er nach seiner Tante geraten! Sein Köpfchen ist rund wie ein Knopf, er ist blond mit großen schwarzen Pupillen, aber einer blauen Iris (ebenfalls von seiner Tante). Jara ist im letzten November heimgekehrt. Wir hatten mehr als drei Jahre lang nichts von ihm gehört. Im Moment ist er noch ziemlich hager. Tanja war in der Armee (seit Mai 1942) und starb am 2. September 1943 im Krankenhaus an Blinddarmentzündung. Ich denke ständig an sie, genau wie an Dich, aber ich kann nicht darüber sprechen. Mutter und Vater sind natürlich älter geworden. Vater arbeitet zurzeit im Ministerium für die Gummiindustrie, und Mutter beschäftigt sich mit Hausarbeit – die Bruzellose zehrt an ihr …
Ljowa, schreib und lass mich wissen, ob ich Dir Päckchen schicken darf. Wenn ja, dann teil mir mit, was Du brauchst. IrgendwelcheRomane oder Physikbücher? Je schneller dieser Brief Dich erreicht, desto schneller erhalte ich eine Antwort. Also mache ich nun Schluss.
Alles Gute, Ljowa.
Swet
Lew wurde der Brief ausgehändigt, als er nach der Arbeit am Donnerstagabend, dem 8. August, die Post für seine Baracke abholte. Er erkannte Swetas Schrift auf dem Umschlag. Im Innern war ein Foto von ihr. Lew las den Brief an jenem Abend immer wieder von Neuem. Er ging nicht ins Bett, sondern schritt draußen auf
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