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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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derLagerleitung. Strelkow hatte jedoch keine Angst. Er wusste, dass die Gulagbosse ihn brauchten, und es gelang ihm seit Jahren, das System zu seinem Nutzen zu manipulieren. 1942 hatte das Holzkombinat von der Gulagverwaltung den Befehl erhalten, eine Methode zur Verwandlung von Sägemehl in ein hefehaltiges Tierfutter zu finden. Strelkow leitete die Forschung. Nach 18-monatigen Experimenten nahm der Leiter der Holzwerkstatt, ein Häftling namens Boris Serow, zwei Gläser des versprochenen Futtermittels mit zu einer großen Versammlung der Gulagbosse in Abez, dem Verwaltungszentrum für das Lager Petschora. Dort sollte der Jahrestag der Revolution begangen werden. Die Gefäße wurden von den Delegierten mit donnerndem Applaus begrüßt. Nach seiner Rückkehr aus Abez erfuhr Serow von einem der Assistenten Strelkows, dass die beiden Gläser mit gewöhnlichem Gerstenmehl gefüllt gewesen waren.
    Im Jahr 1946 suchte man dringend neue Techniker mit Ingenieurerfahrung für die Trocknungsanlage. Die Hochdruckdampfheizer trockneten das Bauholz nicht rasch genug, um die Menge an Nachschub zu gewährleisten, welche die Werkstätten zur Erfüllung ihrer Planziele benötigten. Aus diesem Grund drängte das Ministerium für Innere Angelegenheiten (MWD, das im März 1946 die Aufsicht über den Gulag vom NKWD übernommen hatte) zunehmend darauf, die Leistung der Anlage zu verbessern. Nachdem Strelkow erfahren hatte, dass Lew Wissenschaftler war, bot er ihm den Posten eines Technikers im Dampfraum an. Lews Aufgabe war es, das Holz so zu drehen, dass sämtliche Teile trocknen konnten. Der Raum hatte eine Mindesttemperatur von 70 Grad, weshalb Lew Hände und Gesicht schützen musste und nicht länger als jeweils ein paar Minuten im Innern bleiben konnte. Es war schwere körperliche Arbeit, aber verglichen mit dem Schleppen der Baumstämme vom Fluss ein »Kinderspiel«.
    Zum ersten Mal seit seiner Ankunft in Petschora konnte Lew Schuhe und Kleidung trocken halten. Er konnte sich den ganzen Tag hindurch wärmen und wurde nicht von aggressiven Aufsehern schikaniert. Als vielleicht noch wichtiger für seine Moral erwiessich die Tatsache, dass Lew, wenn er nicht im Dampfraum arbeitete, Strelkow in dessen Labor besuchen konnte. Dieser hatte einen großzügigen, 30 Quadratmeter umfassenden Wohnbereich für sich organisiert, in dem er einen Kater (»Wassili Trifonytsch«) hielt und seine Freunde zu lebhafter Konversation, Karten- und Schachspiel empfing. Zudem konnte er Musik aus einem Rundfunkgerät, das er selbst gebaut hatte, Wodka, den er in Destillierkolben brannte, und kostbares Gemüse anbieten. Das Letztere züchtete er in Blumenkästen, die er mit eigens dazu angepassten Dampfgeräten erwärmte. Er besaß sogar unter beheiztem Glas wachsende Blumen – was den Leiter des Holzkombinats so sehr beeindruckte, dass er Strelkows neuesten Traum von der Entwicklung einer Blumenfarm unterstützte.
    Aufgrund der Versetzung in die Trocknungsanlage wurde es Lew zum ersten Mal möglich, Briefe zu schreiben. Dazu hatte er vorher keine Gelegenheit gehabt, denn als er in den Schleppermannschaften arbeitete, war er hungrig, verschmutzt, nass und frierend in die Baracke zurückgekehrt und in seiner totalen Erschöpfung nicht imstande gewesen, in der kurzen Zeit, bevor die Lichter nach dem Abendessen gelöscht wurden, etwas niederzuschreiben. Ohnehin besaß er kein Papier und keinen Stift. Aber nach der Arbeit in der Trocknungsanlage hatte Lew genug Zeit und konnte sich alle erforderlichen Utensilien von Strelkow besorgen.
    Lew hatte beschlossen, nicht an Sweta oder Olga zu schreiben. An Swetas letztem Geburtstag hatte er jegliche Hoffnung aufgegeben, sie wiederzusehen. Die Verurteilung zu zehn Jahren und der Konvoi nach Petschora mussten seine Hoffnungslosigkeit verstärkt haben. Welchen Sinn hatte es, einer Frau zu schreiben, von der er seit fünf Jahren nichts gehört hatte? Vielleicht war sie tot, oder vielleicht hatte sie ebenfalls die Hoffnung fahren lassen und jemand anderen geheiratet. Es mochte sie in Verlegenheit bringen, einen Brief von einem Häftling zu erhalten. Auf keinen Fall wollte er, dass sie durch eine Kontaktaufnahme in Gefahr geriet. Lew hatte entschieden, sich nicht in Swetas Leben einzumischen. Vermutlich war er ein Opfer jenes Gefühls der Wertlosigkeit, das sich nach Jahren der Haft einstellt. Er glaubte, kein Recht auf ihre Liebe zu haben.
     

    Strelkow und sein Kater im Labor. Das Bild an der Wand ist Ilja Repins Gemälde

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