Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
Die Wolgatreidler , das in Sowjetzeiten als Symbol der zaristischen Unterdrückung galt.
Dann überlegte er es sich aus irgendeinem Grund anders. Möglicherweise hatte die Kameradschaft mit Strelkow und dessen Freunden Lews Stimmung gehoben. Vielleicht gab er, wie er es später selbst ausdrückte, »in einem Moment der Schwäche« dem Wunsch nach, mehr über Swetas Leben herauszufinden. Da er nicht wagte, direkt an sie zu schreiben, erkundigte er sich in einem Brief an Olga (»Olja«) nach ihr:
2. Juni 1946
Liebe Tante Olja! Du hast bestimmt nicht erwartet, einen Brief wie diesen zu erhalten. Ich weiß nicht einmal, ob Du gesund und munter bist. So viel ist in den vergangenen fünf Jahren geschehen. Verzeih mir, dass ich Dir schreibe, aber Du warst mir immer teuer – deshalb bitte ich Dich nun um Deine Hilfe. Ichwollte auch an Tante Katja schreiben, aber ich kann mich nicht an ihre Wohnungsnummer erinnern.
Ich bin in einem Arbeits-Besserungslager des MWD, wo ich eine zehnjährige Haftstrafe ableiste. 1945 wurde ich wegen Vaterlandsverrats verurteilt. Wie, was und warum – das in einem Brief zu erklären wäre zu umständlich und schwierig …
Die Bedingungen hier sind gut, wenn man das nördliche Klima außer Acht lässt. Schwer ist für mich nur, dass ich seit fünf Jahren nichts über die Menschen erfahren habe, die mir nahestanden, die Menschen, die ich immer geliebt habe. Wenn Du mir antwortest, erzähl mir von Tante Katja, Vera [Olgas Schwägerin], Mich. Iw. [Olgas Mann]. Wie geht es Nikita und S.’ Familie? Sag ihnen nichts von mir, doch schreib mir, was Du über sie weißt.
Ich hoffe, dass Du wohlauf bist, und wünsche Dir aus ganzem Herzen alles Gute – Dir, Tante Katja, Mich. Iw. und den Übrigen. In diesen langen Jahren habe ich ständig an Euch gedacht.
Mit den besten Wünschen
L. Mischtschenko
Meine Adresse: Komi-ASSR, Station Petschora, Holzkombinat, Postfach 274/11, L. G. Mischtschenko.
Lew erhielt am 31. Juli eine Antwort von Olga. Es war sein erster Kontakt mit einem Menschen aus der Welt, die er verlassen hatte. Der Brief erschütterte ihn, denn Olga berichtete vom Tod vieler seiner Freunde und Verwandten während des Krieges, darunter Swetas Schwester Tanja. Doch sie schrieb auch, dass Sweta bei guter Gesundheit sei. Am folgenden Tag verfasste er eine Antwort an Olga.
Nr. 2
Petschora, 1.VIII. 46
Meine liebe Tante Olga, gestern, am 31.VII. 46, ist Dein erster Brief eingetroffen. Der 31. war häufig ein freudiger Tag fürmich. 8 Wie sehr der Brief meine Emotionen aufgewühlt hat, wie viel Glück seine herzlichen Gefühle mir beschert haben – ich finde keine Worte, es Dir zu beschreiben. Ich habe nichts von Dir erwartet und konnte mir keinen Brief wie den Deinen erhoffen. Ich freue mich so sehr, dass Du am Leben bist, höre jedoch voll Kummer von Deinen Krankheiten und Deiner Einsamkeit. In unserem Leben ist es zu so vielen bitteren Verlusten gekommen … Es war sehr schmerzlich, von Tanjas Schicksal zu erfahren. Aber es ist ein Segen, dass es S.’ übrigen Verwandten gutgeht. Ich kann Dir nicht erklären, wie glücklich ich darüber bin, dass S. unversehrt ist, dass sie ein erfülltes und sinnvolles Leben führt. Aus tiefstem Herzen wünsche ich ihr alles denkbare Glück. Es freut mich, dass Du noch mit ihr in Verbindung stehst. Schreib mir über sie, über alles, was Du herausfinden kannst. An welchem Institut arbeitet sie und mit wem? Was ist ihr Spezialgebiet? Hat sie ihre Doktorprüfung bestanden? Meine Gefühle für sie sind trotz der Zeit und Entfernung, die uns trennen, immer noch die gleichen.
Ich schreibe Dir, nicht ihr diese Worte, weil ich sie nicht belasten möchte. Sie soll ein ruhiges Leben führen, ohne dass ich es verkompliziere, ohne dass ich es durch Erinnerungen an die Vergangenheit und Gedanken über meine gegenwärtige Existenz überschatte.
Anfang 1946 erwartete Sweta nicht mehr, Lew je wiederzusehen. Alle anderen waren aus dem Krieg zurückgekehrt, weshalb sie angenommen haben dürfte, dass er tot oder für immer verschollen war. Monatelang war sie »nicht imstande zu schlafen«, wollte »nichts essen« und »trieb ihre Eltern zur Verzweiflung«. Sie »sehnte sich nach wenigstens einem Wort« von Lew. Es »hätte alles verändert«. Aber im Lauf der Zeit wurde sie bedrückter und verlor die Hoffnung. Und dann hörte sie von Olga.
Sofort schrieb Sweta an Lew.
12. Juli 1946 (1)
Ljowa, wenn ich nicht
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