Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
und ab – die weiße Nacht der Arktis spendete ihm genug Licht. Die Sonne stand bereits seit zwei Stunden am Himmel, als Lew am nächsten Morgen um halb sechs zu schreiben begann:
Petschora, 9. VIII. 46 Nr. 1
Sweta, Swet, kannst Du Dir vorstellen, was ich gerade empfinde? Ich kann es nicht benennen und mein Glück nicht ermessen. Der 8. war in meinem Leben immer ein wichtiges Datum (Du siehst, ich bin Fatalist geworden), und nun ist er zu einem freudigen Datum geworden. Ich holte die Briefe für unseren Block ab und war kein bisschen eifersüchtig auf diejenigen, die Nachrichten erhielten, denn ich erwartete nichts für mich selbst. Am 31. hatte ich einen Brief von Tante Olga bekommen und rechnete mit keinem weiteren bis Anfang September. Und dann sah ich plötzlich meinen Nachnamen! Und, als wäre sie lebendig, Deine Handschrift! Drei Jahre lang hatte ich ein winziges Stück Papier mit Deiner Handschrift aufbewahren können – es war alles, was ich von Dir besaß –, bis es bei der gründlichen Durchsuchung in Buchenwald am 3. VII. 44 beschlagnahmt wurde. Ich gab mich der Hoffnung hin, dass Du am Leben warst und dass wir uns wiedersehen würden. Aber an Deinem letzten Geburtstag, den ich in einem schwierigen Moment während der Vernehmung feierte, fand ich mich damit ab, mich von Dir zu verabschieden … Danach versagte ich mir jede Hoffnung – nicht nur darauf, dass wir uns je wieder begegnen würden, sondern sogar darauf, je irgendetwas über Dich zu hören.
Sweta, wenn Du Dir nur vorstellen und verstehen könntest, was in einer Vernehmung wirklich vor sich geht! Es ist nicht bloß eine Frage der physischen Qualen, sondern dessen, was man in der Seele verspürt! Wusstest Du, dass es etwas Schlimmeres als den Tod gibt? Nämlich Misstrauen. Aber ich komme vom Thema ab. Jedenfalls habe ich mich von Dir verabschiedet. Doch ich konnte es ohne Dich nicht aushalten. Acht Monate später schrieb ich einen Brief an Tante Olja – einfach auf gut Glück, ohne große Hoffnung. Und ich erkundigte mich nach Dir. Dann, am Jahrestag jenes närrischen 31. Juli1936 , als ich fast ertrunken wäre und auf dem Weg nach Boriskowo zu Dir aus der Istra gezogen werden musste, wurde ich erneut gerettet. Ich hatte keinen so liebevollen, warmherzigen und mütterlichen Brief erwartet. Eigentlich hatte ich mit gar keinem Brief gerechnet … Tante Olja schrieb allerlei über Dich! Du bist am Leben! Und wie sich herausstellt, besuchst Du sie sogar – was bedeutet, dass Du nicht beschlossen haben kannst, mich aus Deinem Gedächtnis auszulöschen. Hätte ich mir mehr wünschen können? Dabei hatte ich nur ein wenig über Dich herausfinden wollen, ohne mich in Dein Leben einzumischen. Und dann – gestern oder besser gesagt heute, denn obwohl es nun 6 Uhr morgens am 9. August ist, bin ich noch nicht ins Bett gegangen, womit ich noch von heute sprechen kann (und außerdem gibt es ja keine Nacht in der Arktis) – kam plötzlich ein Brief. Nicht nur die Handschrift, nicht nur die von Dir geschriebenen Worte, sondern was für Worte, was für ein Brief! Und auch noch ein Foto. Und das alles ist für mich gedacht? Für mich? Swetka, Swetka, ich bin nicht in der Lage, mehr darüber zu sagen …
Sprechen wir von etwas anderem. Du redest von einem Wiedersehen … Swetka, das ist – ich meine, es ist fast unmöglich. 58–1 (b) ist eine schreckliche Ziffer. 10 Darüber mache ich mir keine Illusionen. Aber ich verspreche Dir, dass ich alles mir Mögliche tun werde, um die Strafe zu verkürzen.
Es freut mich so, dass Du endlich die Zügel Deines Lebens in die Hand nimmst, Sweta, dass Du stark und guten Mutes bist. Es ist schön, dass Du einen wichtigen Beruf hast und dass man Dich schätzt. Du hast einen prächtigen Verstand, Sweta, Du bist sehr intelligent! Bitte, bitte, rümpf nicht die Nase – dies ist Lob aus einer unzuverlässigen Quelle. Sweta, Sweta, Du bist mir so nahe. Es fühlt sich an, als hätten sich die letzten fünf Jahre nie abgespielt, obwohl wir nun auch durch die Entfernung, ganze 2170 Kilometer, voneinander getrennt sind. Und für mich siehst Du so gut wie unverändert aus. Ein kaum wahrnehmbares Etwas, auf dem Foto kaum zu erkennen, verrät, dass Dein Herz ein wenig gealtert ist, mehr nicht …
Du fragst nach Büchern. Ich habe Bücher in all den Jahren schrecklich vermisst. Es war sehr schwierig, mir welche zu verschaffen, und deshalb habe ich schändlich wenige gelesen … Erinnerst Du Dich an die
Weitere Kostenlose Bücher