Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
Brief legte sie mehrere leere Blätter bei, damit Lew ihr antworten konnte. Sie schrieb nachts, wenn sie allein war.
Ich muss zu Hause sein, um Briefe zu schreiben, und auch allein (oder alle anderen sollten schlafen), damit mir der Kopf nicht schmerzt, damit ich nicht schlafen möchte und in einer erträglichen Stimmung bin. All diese Umstände treffen nicht immer zusammen.
Sweta füllte ihre Briefe mit Neuigkeiten und Details über ihr tägliches Leben, ihre Familie, ihre Arbeit und ihre Freunde. Durch diese Mitteilungen lebte sie für Lew. Oberflächlich betrachtet, scheint es ihrer Sprache an romantischem Gefühl zu fehlen. Vielmehr weisen ihre Texte den etwas trockenen und knappen Duktus der sowjetischen technischen Intelligenzija auf, in deren Milieu Sweta aufgewachsen war, während Lew der ausdrucksvolleren Sprache seiner Großmutter und des russischen Landadels des 19. Jahrhunderts näher ist. Sweta räumte ein, dass sie überschwängliche Formulierungen nicht mochte. Sie war eine praktisch veranlagte, emotional großzügige, oftmals liebevolle Person, doch viel zu ehrlich und freimütig, um sich romantischen Illusionen hinzugeben.
Sentimentale Worte über die Liebe (sowohl über die erhabene als auch über die billige Variante) haben die gleiche Wirkung auf mich wie Kauf und Verkauf. Meines gehört Dir, genau wie Deines mir. Daher rühren nie enden wollende Beschwerden. ImInnern höre ich immer wieder den Satz: »Gib gern und verlang nicht, dass jeder zurückzahl, das ist der Schlüssel zur Öffnung aller Geister.«
Das Fehlen sentimentaler Worte in ihren Briefen täuscht indes. Das Gedicht von Sascha Tschorny (»Für den Geduldigen«), das Sweta zitierte, drückt vollkommen die Liebe aus, mit der sie Lew bedachte, indem sie ihm jeden Tag schrieb:
Wenn die Besten beschließen, ihre Not zu beenden,
Werden schwerfüßige Hyänen verdüstern die Welt!
Liebe die Freude des Fluges, lass sie dir spenden …
Und jeder Winkel deiner Seele sei erhellt.
Sei Bruder, Schwester, Frau oder Gemahl,
Arzt, Pflegerin oder der Künste Meister,
Gib gern und verlang nicht, dass jeder zurückzahl,
Das ist der Schlüssel zur Öffnung aller Geister.
Sweta lieferte Lew einen laufenden Kommentar über ihr Leben. Sie beschrieb, wie Moskau auf ihrem Weg zur Arbeit aussah, und fügte Einzelheiten über ihre Kleidung hinzu, die sie mit Erinnerungen an Lew verband:
Moskauer tragen, was immer ihnen noch geblieben ist – einen Pelzmantel oder eine wattierte Jacke (ein Lieblingsstück der morgendlichen Pendler, mit denen ich zur Arbeit fahre). Fabriken beginnen um 8, Institute um 9 und Ministerien um 11 … Ich habe keinen Wintermantel, denn der alte schwarze ist meinem Zerstörungsdrang – einem Kennzeichen aller zweibeinigen Tiere – zum Opfer gefallen und auf Mamas Beharren zu einem guten Kostüm umgearbeitet worden … Mein graugrüner Sommermantel lebt noch … Und weißt Du, was noch benutzt wird? Die Schuhe, die wir gekauft haben. Sie haben mich überallhin begleitet, und nun trage ich sie ins Institut, weil sie so leichtsind … Das ist alles, was ich über unsere Lebensweise – die nicht so gut ist, wie Du Dir wohl vorstellst – zu sagen habe.
Lew sehnte sich nach Neuigkeiten über Moskau, besonders von Sweta. Im Lager verbrachte er viele Stunden damit, mit anderen Moskauern wie Anissimow und Gleb Wassiljew in Erinnerungen an die Stadt zu schwelgen. Wassiljew war Mechaniker in der Metallwerkstatt und hatte dieselbe Schule wie Sweta besucht. Kurz nachdem er sein erstes Jahr an der Physikalischen Fakultät der Moskauer Universität beendet hatte, war er 1940 verhaftet worden. Lew wünschte sich, dass seine Briefe ihn aus der öden nördlichen Landschaft von Petschora ins Moskau seiner Träume forttragen würden:
Heute ist es grau und bedeckt. Der Herbst hat sich still und trügerisch herangeschlichen und seinen dauerhaften, netzartigen Schleier über Petschora geworfen, über den Wald, über die Häuser am Uferdamm, über die Gebäude und Schornsteine unserer Industrieanlage, über die teilnahmslosen, strengen Kiefern … In Moskau habt Ihr einen Herbst, der Lewitans und Kuindschis wert wäre, 11 eine goldene Jahreszeit, in der Blätter fallen und trockene unter den Füßen rascheln. Wie weit weg das alles zu sein scheint. Und doch stelle ich mir vor, dass die Dinge in Moskau so sein müssen, wie sie waren – die Menschen sind so wie früher, die Straßen unverändert. Und dass auch Du
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