Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
Vom Netzwerk:
erster Brief war noch nicht eingetroffen, als Sweta ihm am 7. August erneut schrieb: »Mein lieber Lew, ich frage mich den ganzen Tag lang, ob Du meinen Brief vom 12. Juli bekommen hast. Ist er bei Dir?« Das war nicht der Fall (Lew erhielt ihn am folgenden Tag, dem »wichtigen« 8. August). Sweta empfing seinen ersten Brief am 23., kurz nachdem sie von der Datscha heimgekehrt war. »Auch ich bin fatalistisch geworden«, ließ sie ihn an jenem Nachmittag wissen:
     
Als ich Dir meinen ersten Brief schrieb, saßt Du an Deinem zweiten, doch ich schickte Dir meinen zweiten, als Du meinen ersten erhieltst, und ich schrieb meinen dritten, als ich Deinen ersten bekam – und als La Traviata im Rundfunk gespielt wurde!
     
    Lew verfasste seinen zweiten Brief an Sweta am 11. August, um sicherzugehen, dass sie ihn rechtzeitig zu ihrem Geburtstag am 10. September in den Händen hatte, und erhielt ihre Antwort auf seinen ersten Brief am selben Tag. »Es war ein Geschenk für mich«, teilte er ihr an jenem Abend mit, »obwohl heute alle Geschenke für Dich bestimmt sein sollten.«
    Ihre Korrespondenz hatte begonnen, doch sie war stockend und frustrierend. »Heute ist Dein Brief vom 26. eingetroffen«, schrieb Sweta am 6. September,
     
und davor Deine Briefe vom 8. und 11., aber den vom 21. habe ich noch nicht erhalten. Es ist schwierig, sich auszutauschen, Ljowa, da monatelange Abstände zwischen unseren Briefen liegen. Wenn Du meine Gedanken endlich lesen kannst, bist Du vielleicht schon in einer anderen Stimmung.
     
    Die Verzögerungen waren nicht das einzige Ärgernis. Auch das Wissen um die Zensur schränkte ihr Gespräch ein. Sie waren unsicher, wie klar sie sich ausdrücken durften, ohne in Schwierigkeiten zu geraten. Lew deutete dies lediglich an, als er in seinem dritten Brief »enge Grenzen« erwähnte:
     
Sweta, Du weißt, dass ich nie faul bin, wenn es ums Briefeschreiben geht. Und Du wirst mir glauben, wenn ich Dir sage, dass ich in meinen Gedanken täglich mindestens 16 von 24 Stunden mit Dir spreche. Und deshalb wirst Du verstehen, dass es mir, wenn ich mich selten melde, nicht an dem Wunsch dazu fehlt, sondern dass ich nicht weiß, wie ich Dir innerhalb enger Grenzen schreiben soll.
     
    Lew dachte sorgfältig über den Inhalt seiner Briefe nach und überlegte sich die Formulierungen tagelang, bevor er sie niederschrieb. Aus Angst davor, dass andere Häftlinge sie als Zigarettenpapier benutzen könnten, wenn er sie in der Baracke zurückließ, trug er unvollendete Briefe in der Tasche bei sich, weshalb sie häufig zerknittert waren, bevor er sie abschloss.
    Viele seiner Aussagen waren nur zwischen den Zeilen zu erkennen. Er benutzte Codewörter für MWD-Funktionäre (»Onkel«, »Verwandte«), das Gulagsystem (»Schirm«) oder Bestechungsgeld (»Vitamin D« nach dem Wort für Geld, dengi ) sowie literarische Anspielungen (besonders auf die Satiren der im 19. Jahrhundert lebenden Schriftsteller Nikolai Gogol und Michail Saltykow-Schtschedrin), um Botschaften über die Absurdität des Alltagslebens im Lager zu übermitteln. Die Namen von Freunden und Verwandten wurden nie ausgeschrieben, sondern in Form von Initialen wiedergegeben oder durch Spitznamen verborgen.
    Anfangs fürchtete Lew, Sweta könnte durch den Empfang der Briefe eines Häftlings in Gefahr geraten. Deshalb hatte er im allerersten Brief vorgeschlagen, postlagernd zu korrespondieren. »Es gibt keinen Grund für irgendeine Art der Postlagerung«, hatte Sweta erwidert, »denn wir kennen all unsere Nachbarn.« Später änderte sie ihre Meinung und regte an, ihren Namen auf dem Umschlag auszulassen, »um keine Aufmerksamkeit zu erregen«, falls die Nachbarn einen Blick in den Briefkasten am Eingang des Häuserblocks warfen. Vorläufig jedoch machte sie kein Hehl daraus, dass sie an einen Häftling schrieb, und all ihre Angehörigen und engsten Freunde unterstützten sie.
    Sweta verfasste ihre Briefe ebenfalls sehr sorgfältig. Sie fertigte stets einen Entwurf an, korrigierte und kopierte ihn, um sicherzustellen, dass sie ihre Gedanken präzise wiedergab, und erwähnte nichts, was Lew gefährden würde. Da sie sich nicht darauf verlassen konnte, dass ihre Briefe den Adressaten erreichten, bewahrte sie als zusätzliche Sicherheitsmaßnahme die Entwürfe auf. Sie schrieb mit kleinen, kaum lesbaren Buchstaben auf leere Blätter oder auf das am engsten liniierte Papier, das sie finden konnte, um so viel wie möglich auf den Seiten unterzubringen. Jedem

Weitere Kostenlose Bücher