Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
Vom Netzwerk:
so bist, wie Du warst. Und ich möchte nicht glauben, dass das, was ich noch sehen kann, eine Illusion ist, dass es verschwinden wird. Oh, wie viele »Unds« ich auf dieser Seite gebraucht habe und wie wenig Logik. Dies ist kein Brief, sondern ein unzusammenhängendes Bündel von Gefühlen.
     
    Sweta begegnete Lews Nostalgie mit einer realistischeren Darstellung. »Noch ist kein Gold in Moskau gefunden worden«, schriebsie am 10. September. »Moskau ist überhaupt nicht so, wie Du es Dir ausmalst. Es gibt zu viele Menschen. In den Straßenbahnen ist es unangenehm. Die Leute sind reizbar. Sie fluchen und prügeln sich sogar. Die Metro ist immer voll. Die Stationen, an denen man umsteigt, sind dem Ansturm nicht mehr gewachsen.«
    Wie Sweta in ihrem ersten Brief versprochen hatte, erzählte sie ihm nun mehr über ihre Arbeit. Das Institut war ein riesiger Komplex aus Werkstätten und Labors mit 650 Angestellten: 120 Ingenieuren, 50 Forschern und technischen Assistenten sowie überwiegend Handwerkern, nämlich Monteuren, Bauarbeitern und Mechanikern. Viele von ihnen wohnten mit ihren Familien in der alten Holzkaserne, die man vor dem Krieg für die dortige Gummi-Testfabrik errichtet hatte. In den Labors, in denen Sweta tätig war, wurden neue Methoden der Reifenherstellung aus synthetischem Kautschuk (Butadien-Natrium) getestet. Ihre Arbeit schloss ein Gutteil Forschung und Lehre sowie das Erlernen der englischen Sprache ein, damit sie über die neuesten Entwicklungen im Westen, die sie in ihrer Dissertation »Über die physikalische Mechanik von Gummi« erörtern musste, auf dem Laufenden blieb.
    Swetas Forschung ließ sich militärisch anwenden und galt deshalb als »Staatsgeheimnis«. Sie hatte Zugang zu »exklusivem« Material, das heißt zu vertraulichen Informationen über die Sowjettechnologie, zu westlichen Veröffentlichungen und so weiter. Dementsprechend war es für sie äußerst riskant, Kontakt zu einem Häftling zu pflegen. Wenn man entdeckte, dass sie mit einem Gulag-Insassen korrespondierte, würde man sie höchstwahrscheinlich aus dem Institut ausschließen und vermutlich unter dem Verdacht verhaften, dass sie einem verurteilten »Spion« Staatsgeheimnisse preisgab. Von all ihren Kollegen im Institut wussten nur zwei um ihre Beziehung zu Lew: ihre enge Freundin Bella Lipkina, die drei Jahre jünger als Sweta war und im selben Labor arbeitete, und ihr Chef Michail Zydsik, ein Chemiker »an der grauen Seite der 50« und ein alter Bekannter ihres Vaters. Sweta und Zydsik kamen gut miteinander aus. Er behandelte sie stets freundlich, beschützte sie auf väterliche Art und verließ sich auf ihre Hilfe bei Verwaltungsangelegenheiten,da er häufig kränkelte. »Ich kann offen und ungezwungen über alles und jeden mit ihm sprechen«, erklärte sie Lew.
    Sweta hatte in mancherlei Hinsicht Glück, und doch hing sie offensichtlich nicht mit Leib und Seele an ihrer Forschung:
     
Ich habe erfahren, dass es sehr schwierig ist, sich ohne Unterbrechung von 9 bis 18 oder 19 Uhr abzurackern. Gewöhnlich verbringt man bei der Arbeit etwas Zeit mit einer Sache, dann mit einer anderen, man lehrt ein wenig, berät dann jemanden darüber, wie etwas getestet werden müsste, studiert ein bisschen … und unterhält sich dann kurz über ein Konzert oder ein Buch … Aber hier arbeiten wir in letzter Zeit, als stünden wir am Fließband: Ich schreibe, Mich. Al. [Zydsik] liest, ein Mädchen kopiert, ein zweites zeichnet, ich lese erneut, da die Mädchen sich schlecht auf Interpunktion verstehen, und danach unterzeichnen wir das Dokument … und schicken es zum Akademischen Sekretär und zur Erfassungsstelle. Auf diese Weise haben wir drei wissenschaftliche Methodologien heruntergerasselt … Die eine über Frostwiderstand war meine erste Arbeit, und nun haben wir neben der Methodologie auch »Ein Projekt über den Standard des Allunionsstaats für die Bestimmung von Frostwiderstand mit Hilfe der Aufprallfrakturmethode« verfasst. Es wird wahrscheinlich mehr als ein Jahr dauern, bis es die verschiedenen Agenturen und Ausschüsse durchlaufen hat. Meine Aufgabe ist es, über Elastizität bei hohen und niedrigen Temperaturen zu schreiben, aber ich langweile mich bereits zu Tode.
     
    Sweta hatte einen vollen Terminkalender: montags und donnerstags Englischunterricht nach der Arbeit, dienstags und freitags technische Ausbildung, mittwochabends Vorlesungen über Hochpolymere und samstags obligatorische Vorträge über »Diamat«

Weitere Kostenlose Bücher