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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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Wahrheiten predige, während ich hier zu Hause sitze.
     
    Lew antwortete am 14. November in seinem 16. Brief. Durch ihre Worte war eine Flut quälender Gedanken ausgelöst worden, die er zuvor nicht offenbart hatte. Fünf Jahre Gefangenschaft hatten ihn daran zweifeln lassen, dass er irgendjemandem etwas bedeutete:
     
Ich habe Deinen Rüffel gelesen, Sweta, und es war schwierig für mich, Dir zuzustimmen. Wäre ich in Deiner Situation, hätte ich wahrscheinlich das Gleiche gesagt, aber wer hier ist, denkt manchmal anders und betrachtet die Dinge auf eine so quälende und misstrauische Art, dass er wahnsinnig wird. Psychisches Trauma ist daran schuld – es kann eine Menge Dinge umkrempeln … Verstehst Du? Glaubst Du mir? … Wenn man seit fünf Jahren alles mit dem Gedächtnis – und nur mit dem Gedächtnis – sieht, ohne zu wissen, ob etwas (oder jemand) aus der Vergangenheit noch existiert und wie jemand lebt oder gelebt hat, dann wird alles, was man für wahr hält, in Unkenntnis vorausgesetzt. Nicht aus Stolz oder zu großer Bescheidenheit vermutet man das Schlimmste, Sweta, sondern aus Unkenntnis, denn sie ist die Wurzel des Zweifels. Dann wird all die Logik, die man anwendet, die natürliche Logik, auf die sogar ich zurückgreifen kann, ausgelöscht … Doch von dem Moment an, als ich Tante Oljas Brief erhielt, wurde plötzlich alles klarer. Jedes Wort war wie eine Auferstehung. Nun schreibe ich recht wild, nicht so, wie es nötig wäre. Ich kratze mir das rechte Ohr mit der linken Hand und mache nichts einfacher – verzeih mir, Swet.
     
    Lew schöpfte Mut aus dem Wissen, dass seine Freunde ihn nicht im Stich gelassen hatten. »Es ist sehr gut, Sweta, wirklich sehr gut, dass unser Schicksal keinen unserer Freunde beleidigt hat«, schrieb er, nachdem sie ihm Grüße von ihren alten Mitschülerinnen Irina und Schura übermittelt hatte.
    Doch noch mehr als das Wissen darum, dass er Freunde hatte, die sich um ihn sorgten, war es Swetas Liebe, die Lew aufrichtete. Er lebte durch ihre Worte. »Deine beiden Briefe machen meine ganze Bibliothek aus«, schrieb er ihr im Oktober, als er noch auf einen dritten wartete. »Sie sind ständig bei mir und dienen als Ersatz für alles, was ich vermisse – Menschen, Musik, Bücher.« Das Eintreffen eines Briefes versetzte ihn stets in Aufregung, wie er Sweta später gestand:
     
Wenn ich meinen Namen auf dem Umschlag sehe und er Deine Handschrift trägt, überkommt mich immer die gleiche Empfindung: eine Mischung aus Unglauben, Erstaunen, Freude und schließlich Gewissheit, sowie ich begreife, dass er wirklich für mich ist und wirklich von Dir. Dieses Geständnis hat keinen Sinn, und nun fürchte ich, dass Du, wenn Du logisch darüber nachgedacht hast, mir nur noch leere Umschläge schicken wirst.
     
    Lew las ihre Briefe immer vor dem Schlafengehen – »wobei ich meine Decke über den Kopf ziehe, damit mein idiotisches, glückseliges Lächeln die Männer um mich herum nicht an meinem Verstand zweifeln lässt und damit sie mich nicht in die Krankenstation befördern«.
    Swetas Briefe gaben ihm Hoffnung, und das war ihr erklärtes Ziel. Er sollte das Gefühl haben, gebraucht zu werden, wie sie in einem Brief erläuterte, den er an ihrem Geburtstag erhielt:
     
Hör zu, Lew, um zu entscheiden, ob Du ein Teil des Lebens sein willst oder nicht, musst Du es vorher verlassen haben, aber eine fünfjährige Abwesenheit bedeutet keineswegs, dass Du es verlassen hast. Das ist eindeutig nicht lange genug für die Menschen,die Dich aufwachsen sahen, und auch für mich ist es nicht lange genug. Vielleicht bist Du für Universitäts- und Arbeitskollegen bloß eine Erinnerung, doch das Leben ist das Leben, und Du bist meines, denn kein Tag vergeht, an dem ich nicht morgens, nachmittags und abends an Dich denke.
     
    Lew räumte ein, dass sie die Rollen getauscht hatten. Vor dem Krieg war er derjenige gewesen, der Sweta optimistischer gestimmt hatte, nun jedoch hatte sich die Situation umgekehrt. In seiner Verzweiflung meinte er, »wenig Grund zum Optimismus« zu haben – keine Hoffnung, dass man ihn entlassen würde oder dass sie sich vor dem Ende seiner Strafe wiedersähen. Sweta erwiderte am 15. Oktober:
     
Es ist wahr, dass ich versuche, Dir etwas Optimismus einzuflößen. Aber ist das zurzeit nicht mein Hauptziel? Es ist auch wahr, dass die Umstände komplizierter und deshalb schwieriger sind und dass ich viel weniger bewältigen muss als Du. Aber die Vorstellung, dass unser

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