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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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sei Dank, doch unmöglich zu erreichen.
     
    Lew trauerte um die Zeit, die ihnen verlorenging. »Manchmal, wenn ich Dir schreibe, Sweta«, sinnierte er in seinem achten Brief,
     
betrachte ich die Menschen hier im Lager, die alle unter ganz anderen Umständen und in einer anderen Umgebung leben, als sie es früher gewohnt waren. Ihre geistige Einstellung hat sich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Dies ist keine Frage des Alterns oder von Wandlungen, die sich im Lauf der Zeit einstellen – es wäre schlimm, wenn sie es nicht täten. Du sagtest einmal völlig zu Recht (Du saßt mit den Prinzipien oder der Thermodynamik – ich erinnere mich nicht mehr genau – an Deinem Tisch, und ich weiß immerhin, dass es Abend war und eine Tischlampe summte und dass ich neben dem Klavier stand), dass Menschen, die sich nicht mit der Zeit änderten, nie sie selbst werden würden … Was kann ich über Dich sagen, Swetuschka? Dass ich Dich jeden Tag sehe, dass ich weiß, wie Du früher warst und wie Du heute bist … und dass, obwohl ich jedes ergrauende Haar auf Deinem Kopf bedauern werde, obwohl jede zusätzliche Falte in Deinen Augenwinkeln mich schmerzen wird, diese Dinge unvermeidlich sind, und wenn sie sich ereignen, werden sie meine Gefühle für Dich nicht mindern, sondern ihnen etwas hinzufügen – etwas Neues, doch Dir Gehörendes. Würde es wirklich eine Rolle spielen, wenn man dies als Alter bezeichnete? Du warst meine Welt und wirst meine Welt bleiben, und was Du auch warst, für mich wirst Du immer meine Swet, mein Licht, sein.
     
    »Die Zeit zieht vorbei, und die Menschen ändern sich, das ist wahr«, stimmte Sweta zu. »Aber ändern sie sich wirklich zum Schlechteren?«
     
Ich weiß nicht, Lew, mir scheint, dass jedes Alter seine gute Seite hat. Die Frage des Alters und des Verstreichens der Zeit beunruhigte mich am stärksten, als ich zwischen 17 und 19 Jahre alt war. Damals schien mir, dass die Hälfte meines Lebens, die bessere Hälfte, bereits vergangen war, aber sobald ich Dich getroffenhatte, dachte ich nie wieder an mein Alter. Mein Leben war gut, und ich dachte, es würde weiterhin gut sein oder sich nicht erheblich verändern. Wahrscheinlich bin ich in den letzten fünf Jahren gealtert, was ich schwer beurteilen kann, aber wenigstens bin ich nicht alt geworden (älter zu werden und alt zu sein sind zwei Paar Stiefel). Wenn das Alter mir überhaupt Sorgen bereitet, dann auf einer banaleren, rein physischen Ebene. Ich würde meine Jugend und so viel Schönheit, wie mir gegönnt wurde, gern bewahren – als Geschenk für Dich.
     
    Unterdessen hielt Lew sie auf dem Laufenden darüber, wie er die 3360 Tage zählte, die noch von seiner Strafe blieben, bevor er hoffen konnte, ihr »ergrauendes Haar« zu sehen. Er schickte Sweta seinen sorgfältig zensierten Kommentar zu den Hauptereignissen im Gefangenenlager. Die große Neuigkeit jenes ersten Herbstes war seine Versetzung aus der Trocknungsanlage ins Stromkraftwerk des Holzkombinats. Er hatte keine Ausbildung oder Erfahrung als Elektroingenieur, aber man hielt seine wissenschaftlichen Vorkenntnisse für eine hinreichende Qualifikation, um ihm die Arbeit an den Hochspannungskabeln zu übertragen. Es gab wenig Ingenieure im Arbeitslager, und die Verwaltung scherte sich kaum um die Sicherheit der Häftlinge, die sie für eine so gefährliche Arbeit einsetzte. »Es ist mir endlich gelungen, mich auf einen Posten versetzen zu lassen, der mir besser gefällt«, verkündete er am 2. September.
     
Ich bin der Elektrogruppe als Monteur zugewiesen worden. Die Arbeit sagt mir zu, und die Leute hier sind viel besser, obwohl die Tätigkeit körperlich schwieriger ist. Ich mache meine Arbeit gern und bemerke die Wochentage nicht einmal. Heute ist der 2., ein Montag, oder? Ich werde ein bisschen mehr lernen müssen, denn in der Vergangenheit habe ich nur an Leitungen und ein wenig an Stromanlagen in Fabriken gearbeitet, während ich jetzt mit Oberleitungen zu tun habe. Wenn Du ein Handbuch für Elektroinstallation oder irgendein Lehrbuch für Elektrotechnik findest, dann schick es mir bitte.
     
    Lew verdankte die Versetzung seiner Freundschaft mit Nikolai Lilejew, einem Häftling, den er während des Konvois aus Frankfurt kennengelernt hatte. Lilejew litt bei seiner Ankunft in Petschora so sehr an Skorbut, dass man meinte, er sei nur für die Arbeit im Kraftwerk tauglich. Dort empfahl er Viktor Tschikin, dem Chef der Elektrogruppe, auch Lew zu übernehmen. Tschikin

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