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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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ihr nichts bieten, nicht einmal die Hoffnung, dass er zurückkehren würde, doch sie gab sich ihm hin. Lew verspürte tiefe Dankbarkeit dafür, dass sie auf ihn, einen Häftling, warten würde und dass sie ihn trotz allem liebte. Zugleich aber machte ihm ein Gefühl von Schuld und Scham zu schaffen. Er wollte keine Last für Sweta – oder irgendjemanden sonst – sein. Ebendarum hatte er zuerst nicht an sie, sondern an Tante Olga geschrieben. Und darum hatte er Angst gehabt, bei Freunden und Verwandten »an die Tür zu klopfen«. Sweta verstand sein Verhalten. Wie sieihm mitgeteilt hatte: »Zu große Bescheidenheit ist zu tadeln, genau wie Stolz.«
    Die beiden sollten sich des Öfteren über Lews Selbsterniedrigung streiten. Sweta stellte liebevoll Pakete zusammen und schickte sie Lew, der dann behauptete, er benötige nichts, abgesehen von Briefen, Papier, Federhaltern und ein paar Büchern, und der sie drängte, ihr Geld oder ihre kostbare Zeit nicht an ihn zu verschwenden. Doch Sweta ließ sich nicht abschrecken:
     
Was die Pakete betrifft, versuch nicht, sie aufzuhalten. Im Moment sind sie das Einzige, was uns eine gewisse Genugtuung verschafft (all die anderen Dinge in unserem Leben mögen notwendig sein, aber sie bereiten uns nicht die geringste Freude) … Mama hat mich gebeten, Dir mitzuteilen, was in dem Paket vom 20. war … Hier ist das Verzeichnis: ein weißes Hemd, warme Socken, eine gefütterte Hose, ein Handtuch und ein Schal, Seife, Zahnpasta, eine Bürste und ein Kamm, Hausschuhe, Zwirn und Knöpfe, zwei Dosen (bis 1 Kilogramm) mit Konserven und eine Schachtel Pralinen (in einer seltsamen Verpackung, wie ich Dir geschrieben habe, aber Papa bestand darauf wegen der Ratten), Papier und ein Lehrbuch, Bleistifte, Federn und Tinte, Glukose und Ascorbinsäure (Vitamin C für die nicht Eingeweihten) – nimm sie zu Dir, um Gottes willen.
     
    Lew protestierte weiterhin. Er empfand sich nicht nur als Last, sondern meinte auch, hilflos wie ein Kind geworden zu sein:
     
Sweta, es liegt auf der Hand, dass Gott – oder vielleicht jemand anders – mich für Deinen Ungehorsam bestraft. Ich habe Dich doch gebeten, auf Pakete ganz zu verzichten … Ich bin verantwortlich für 90 Prozent der Dinge, die Dich Deiner Zeit und Kraft berauben – sogar Du kannst das nicht bestreiten. Es bedrückt mich viel mehr, als Du Dir wahrscheinlich vorstellst … Denn es gibt absolut nichts, was ich im Gegenzug tun kann … Mit 30 Jahren finde ich mich gegen meinen Willen in der gleichenLage wieder wie ein Kind, das gefüttert werden muss. Dabei sollte es meine Pflicht sein, Kinder zu versorgen … Was könnte qualvoller sein? Bitte entschuldige die Schärfe meiner Worte, aber ich muss offen sein.
     
    Lew äußerte sich selten scharf oder offen. In seinen ersten Briefen achtete er stets darauf, Sweta einen positiven Eindruck von seiner Situation im Lager zu vermitteln. Selbstmitleid passte nicht zu Lews Charakter, dafür aber Gleichmut. Seine Hauptsorge galt nicht ihm selbst, sondern Sweta und der Frage, welche Folgen es für sie haben würde, wenn er seine Lebensumstände detailliert beschrieb. Er sprach nie von Kälte oder Hunger – im Gegenteil, er behauptete, es sei warm und er habe genug zu essen –, und er ging kaum je auf die Wärter ein, von denen die Häftlinge häufig grausam und brutal behandelt wurden. Aus dem Archiv des Holzkombinats geht hervor, dass es während seiner ersten sechs Monate im Lager zu mehreren willkürlichen Ermordungen von Insassen kam. Es gab Fälle, in denen sich eine Gruppe von Aufsehern betrank und einen Häftling erschoss oder zu Tode prügelte. Lew muss über diese Vorfälle im Bilde gewesen sein – entsprechende Gerüchte kursierten im Lager –, doch er erwähnte sie nie in seinen Briefen.
    Stattdessen schrieb er über die Schönheit des nördlichen Himmels, dessen Anblick ihn das Elend der Gefängniszone vergessen ließ und der der einzige Teil der Welt war, den sie beide sehen konnten:
     
Der Herbst hier ist prächtig. Der Himmel ist klar, die Tage sind warm, die Morgenfrische der ersten Kälteperioden hat einen beruhigenden und kräftigenden Effekt. Die Nordlichter kämpfen bereits mit den Sternen. Ihre hellen, leuchtenden Vorhänge, die aussehen, als wären sie aus den Strahlen blauer, roter und grüner Suchscheinwerfer gewebt, schimmern stets wandelbar, wundervoll und verlockend. Sie sind ein Symbol des menschlichen Glücks – leicht, gelassen, von der Zukunft träumend, Gott

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