Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
selbst war ebenfalls Häftling. Man hatte ihn 1938 verhaftet und zu fünfzehn Jahren in Petschora verurteilt, weil während seiner Aufsicht ein Feuer in einem Kraftwerk in Wologda ausgebrochen war. Seine Fachkenntnis als Ingenieur wurde so hoch geschätzt, dass man ihm die Zuständigkeit für die elektrische Instandhaltung im Holzkombinat übertrug. Im Arbeitslager waren zahlreiche Häftlinge wie Tschikin und Strelkow zu finden, die als Spezialisten und in der Verwaltung arbeiteten. So war 1946 mehr als die Hälfte der verantwortlichen Posten im Produktionsbereich des Holzkombinats mit Häftlingen besetzt. Lilejews Empfehlung kam zu einem günstigen Zeitpunkt, denn das Kombinat lag weit hinter seinem Produktionsplan zurück. Ein besonderes Problem bestand darin, dass der Strom knapp war: Das Kraftwerk konnte den Bedarf der Trocknungsanlage, der Sägemühle und der Werkstätten nur zur Hälfte decken. Die drei Generatoren (betrieben mit Dampfmaschinen, die Holz verbrannten) arbeiteten nur mit einem Viertel ihrer Kapazität von 700 kW und fielen dauernd aus. Häufig ereigneten sich Unfälle und Brände, und es herrschte ein chronischer Bedarf an Elektrikern, Ingenieuren, Mechanikern und Chemikern. Um die Produktivität zu erhöhen, beschloss das MWD, 212 weitere Experten unter den Häftlingen anzuwerben oder auszubilden. Lew war einer von ihnen.
Die Arbeit im Kraftwerk galt als Privileg für Insassen, denn für Gulagverhältnisse war sie leicht – nicht zu vergleichen mit der Schufterei der Schlepperteams. Man arbeitete Acht- statt der normalen Zwölf-Stunden-Schichten, eine Maßnahme, mit der die Lagerverwaltung die Gefahr von Unfällen infolge von Erschöpfung verringern wollte. Die Diensthabenden brauchten nur das Funktionieren der Anlage zu überprüfen und Reparaturen auszuführen, so dass ihnen viel Zeit blieb, um zu lesen, Briefe zu schreiben undKarten, Domino oder Schach zu spielen. Im Kraftwerk war es stets warm, und es gab einen Duschraum für Heizer und Maschinisten, in dem auch Lew sich waschen und seine Kleidung mit heißem Wasser säubern konnte – ein bedeutender Vorteil, denn nun brauchte er das Waschhaus nicht mehr aufzusuchen, wo Kleidung häufig gestohlen wurde und das Wasser immer kalt war. Im Kraftwerk waren keine Wärter tätig, und die Häftlinge wurden nicht von Konvois zur Arbeit gebracht, was bedeutete, dass sich Lew und seine Freunde in der Elektrogruppe frei und ungehindert in der Industriezone bewegen konnten. Sie waren in der Lage, die freiwilligen Arbeiter zu besuchen, die in Häusern neben dem Kraftwerk wohnten; auch durften sie sich im Clubhaus des Holzkombinats aufhalten, zu dem andere Häftlinge keinen Zutritt hatten. Dort wurden Filme gezeigt, es gab ein Radio (ausschließlich auf den Gulagsender Petschora eingestellt), und in dem nahe gelegenen Laden wurden Wodka und Tabak verkauft. Sie konnten auf dem Heimweg von der Arbeit in Strelkows Labor haltmachen, um sich mit ihren Freunden zu treffen, und in der Barackenzone praktisch nach Belieben ein und aus gehen. »Um die Wache zwischen den Baracken und der übrigen Industriezone zu passieren«, erinnerte sich Lilejew, »brauchten wir nur unseren Nachnamen und unsere Häftlingsnummer zu nennen. Ein Wärter trug den Zeitpunkt unseres Ausgangs und unserer Rückkehr in ein Notizbuch ein, das auf einem speziellen Schreibtisch lag. Manchmal versuchte ein Inspekteur, das Verfahren etwas strenger zu handhaben, doch insgesamt war alles ziemlich locker.«
Im Herbst 1946 war Lew der Tagschicht zugewiesen, die um acht Uhr begann. Da er später zur Arbeit ging als die anderen Häftlinge, konnte er nach ihnen, um sechs Uhr, aufstehen und in der Kantine frühstücken, während die Konvois auf dem Bahngelände von den Wärtern gezählt wurden. Viele der Konvois mussten eine Stunde marschieren, bevor sie ihre Arbeitsstätte erreichten, und danach brauchten sie eine weitere Stunde für den Rückmarsch. Lew dagegen gelangte innerhalb von acht Minuten an seinen Arbeitsplatz. Man brachte ihm das Mittagessen während des Dienstes im Kraftwerk, und in den Stunden, in denen er nur ab und zu einen Blick aufdie Maschinen werfen musste, verfasste er seine Briefe an Sweta. »Gerade lässt die Unruhe des Tages in meiner Höhle nach«, schrieb er am 30. Oktober,
der Arbeitstag ist vorbei, bis morgen braucht nichts mehr installiert zu werden. In einer Stunde werde ich abgelöst. Man kann durch den Maschinenlärm seine eigene Stimme nicht hören, aber das
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