Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
stört mich nicht. Ich bin daran gewöhnt. Vor einer Stunde war durch die Fenster zu sehen, wie das dunkelblaue Zwielicht zu schwarzer Nacht wurde, und nun gebietet die Dunkelheit über Petschora.
Im Generatorraum gab es keine Belüftung (»Hier ist es wie in einer Banja – heiß, feucht und dunstig«), weshalb es Mühe bereitete, das Papier trocken zu halten. Aber es war immer noch bequemer, die Briefe dort zu schreiben als abends in den Baracken, wo der Krach der Häftlinge aufdringlicher erschien als jener der Maschinen im Generatorraum. Zudem war das Licht der von der Decke hängenden Glühbirnen »so trübe und gelb«, wie Lew Sweta erklärte, »dass es schwierig wäre, überhaupt etwas zu schreiben, ohne die Petroleumnachtlichter auf den Tisch zu stellen«.
Lew im Labor
Nach der Arbeit hatte Lew Freizeit bis zum Abendessen und bis zum letzten Appell vor dem Schlafengehen. Normalerweise verbrachte er diese kostbaren Stunden im Labor, wo Strelkow seine Freunde aus der Elektrogruppe immer wieder gern empfing. »Der Arbeitstag ist gerade vorbei«, schrieb Lew am 2. September, »und ich genieße die Gastfreundschaft des Laborchefs. Ich sitze in einer kultivierten und ›wissenschaftlichen‹ Umgebung zwischen Gefäßen, Gewichten, Kolben und Reagenzgläsern und schreibe Dir in völliger Stille, die nur von den Klängen einer Masurka aus dem Lautsprecher angenehm unterbrochen wird.« Strelkow war besonders wohlwollend gegenüber den Elektrikern, die sämtlich zu seinen jungen Bewunderern zählten. »Die Zeit, die wir im Labor verbrachten, war die glücklichste unseres Lebens«, erinnerte sich Lilejew. »Wir nutzten jede Gelegenheit, Strelkow zu besuchen, und hielten unshäufig während der Mittagspause im Labor auf. Manchmal – wenn unsere Schichten zusammenfielen – schafften wir es sogar, uns dort zu Geburtstagen oder anderen Jahrestagen zu treffen.« Strelkows Labor war eine Zuflucht, in der sie ihre Briefe, Pakete und andere kostbare Habseligkeiten aufbewahrten, die sonst von den Wärtern oder ihren Mithäftlingen in den Baracken gestohlen worden wären. Hier wurden ihnen ein paar Stunden Erholung von den strengen Bedingungen und der Langeweile des Lagers geboten. Die Elektriker begaben sich ins Labor, um zu trinken und zu rauchen, sich ein Konzert im Rundfunk anzuhören, Karten und Schach zu spielen, ihre Briefe zu lesen oder zu schreiben oder um einfach nur Strelkow zu lauschen, »einem wunderbaren Erzähler mit einem gewaltigen Vorrat an allen möglichen Informationen über Vorfälle, Ereignisse und sonstige Dinge, die er sich angeeignet hat«, erklärte Lew Sweta. »Ich höre mir seine Geschichten mit offenem Mund an.«
Es gab ein halbes Dutzend Elektriker, die sich regelmäßig bei Strelkow versammelten. Einer von ihnen war Ljubka Terlezki, LewsKojengenosse in der Baracke, der auch die Tagschicht im Kraftwerk mit ihm teilte. Lew fühlte sich wohl in Terlezkis Gesellschaft und verspürte den Drang, den jungen Ukrainer, dessen Gesundheit durch sechs Jahre in Petschora ruiniert worden war, zu beschützen. »Ljubka ist ein prächtiger und ganz besonderer Junge«, schrieb Lew am 15. November.
Er scheint ungefähr 24 Jahre alt zu sein, ist intelligent, hat Humor und einen angenehmen Charakter. Als Schuljunge in Lwow wurde er in Physik unterrichtet und brachte sich selbst Elektrotechnik bei … Er liebt die russische Literatur und vermisst die Lektüre von polnischen Texten … Er hat viel durchgemacht, und wenn Du mit ihm reden könntest, würdest Du verstehen, warum er seit sechs Jahren nicht wagt, seinen Eltern zu schreiben, obwohl er dauernd an sie denkt. Ljubka ist solch ein bescheidener, ehrlicher, anständiger Mensch, doch er stellt noch höhere Ansprüche an sich selbst. Offenbar hat er jegliche Hoffnung verloren und glaubt, dass jemand, wenn er einmal hier gewesen ist, »nicht wieder er selbst werden kann«. Manchmal, wenn er spricht, habe ich den Eindruck, mich selbst sprechen zu hören. Er sagt, meine Gedanken seien logisch, doch die einzige Logik, nach der ich leben kann, Sweta, ist in Deinen Briefen enthalten.
Der Moskauer Ljoscha Anissimow, Lews anderer Bettnachbar, gehörte gleichfalls zum Strelkow-Zirkel, ebenso wie Gleb Wassiljew, der 23-jährige Mechaniker, der in Moskau dieselbe Schule wie Swetlana besucht hatte. »Gleb ist gut in Mathematik und kennt sich mit Gedichten aus«, schrieb Lew an Sweta, »und er hat eine Begabung dafür, sie vorzutragen, was hier hoch
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