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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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hatte, damit er seinen Besuch in Erinnerung behielt.
    Nicht lange danach wurde Lew ins Krankenhaus gebracht, wo seine Mutter im Sterben lag. Jemand, wahrscheinlich ein Gefängniswärter, hatte sie in die Brust geschossen. Lew stand am Stationseingang, als eine Krankenschwester mit einem roten, pulsierenden Gegenstand in den Händen an ihm vorbeieilte. Er wusste nicht, was es war. Verängstigt durch den Anblick, weigerte Lew sich, die Station zu betreten, als seine Großmutter ihn aufforderte, von Valentina Abschied zu nehmen, aber er sah von der Tür her zu, wie die alte Frau auf das Bett zuging und seine Mutter auf die Stirn küsste.
    Die Beisetzung fand in der Hauptkirche des Ortes statt. Lew nahm mit seiner Großmutter daran teil. Der Hocker, auf dem er vor dem offenen Sarg saß, war zu niedrig, als dass er hineinschauenund das Gesicht seiner Mutter betrachten konnte. Hinter dem Sarg bemerkte er dafür die gemalten Antlitze auf der bunten Ikonostase, und im Kerzenlicht erkannte er die Ikone der Muttergottes direkt über dem Kopfende des Sarges. Er dachte, dass das Gesicht der heiligen Maria dem seiner eigenen Mutter glich. Lews Vater, der das Gefängnis zur Beerdigung hatte verlassen dürfen und von einem Wärter begleitet wurde, erschien an seiner Seite. »Er ist gekommen, um Abschied zu nehmen«, hörte Lew eine Frau sagen. Nachdem er eine Weile am Sarg gestanden hatte, wurde Gleb wieder abgeführt. Später besuchte Lew das Grab seiner Mutter auf dem Friedhof außerhalb der Kirche. Der Hügel aus frisch ausgegrabener Erde hob sich schwarz vom Schnee ab, und jemand hatte ein Holzkreuz darauf aufgepflanzt.
    Ein paar Tage später ging Lews Großmutter mit ihm zu einer zweiten Beerdigung in derselben Kirche. Diesmal waren zehn Särge vor der Ikonostase aufgereiht, jeder mit einem ermordeten Opfer der Bolschewiki. Einer von ihnen war Lews Vater. Anscheinend hatte man alle Häftlinge in seiner Zelle gleichzeitig erschossen. Wo sie begraben wurden, ist nicht bekannt.
    Im Dürresommer1921 , als eine Hungersnot das ländliche Russland ereilte, kehrte Lew mit seiner Großmutter nach Moskau zurück. Die Bolschewiki hatten ihren Klassenkampf gegen die »Bourgeoisie« vorübergehend eingestellt, und die Überlebenden der Moskauer Mittelschicht hatten erneut die Möglichkeit, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Lews Großmutter hatte zwanzig Jahre lang in Lefortowo, einem von Kleingewerbetreibenden und Händlern bewohnten Bezirk, als Hebamme gearbeitet, und nun zogen Lew und sie dort zu einer fernen Verwandten. Ein Jahr lang belegten sie eine Zimmerecke – mit einem Bett und einem Klappbett hinter einem Vorhang –, während Lidia hin und wieder als Krankenschwester tätig war. 1922 wurde Lew von seiner »Tante Katja« (Valentinas Schwester) aufgenommen, die mit ihrem zweiten Mann in einer Kommunalwohnung in der Granowski-Straße, ganz nahe am Kreml, wohnte. Dort blieb er bis1924 , als er in die Wohnung der Tante seiner Mutter in der Malaja-Nikitskaja-Straße umzog. Siehieß Jelisaweta Konstantinowna und war eine ehemalige Lyzeumsdirektorin. »Fast jeden Tag kam Tante Katja zu Besuch«, erinnerte sich Lew. »Dadurch wuchs ich in einer Sphäre des ständigen weiblichen Einflusses und der weiblichen Fürsorge auf.«
    Die Liebe dieser drei Frauen, von denen keine ein eigenes Kind hatte, konnte den Verlust von Lews Mutter nicht ausgleichen, aber sie weckte in ihm einen tiefen Respekt, wenn nicht gar Ehrfurcht vor Frauen im Allgemeinen. Diese mütterliche Liebe wurde durch die moralische und materielle Unterstützung von drei der engsten Freunde seiner Eltern ergänzt, die seiner Großmutter regelmäßig Geld schickten: von Lews Patin, einer Ärztin in der armenischen Hauptstadt Jerewan, von Sergej Rschewkin (»Onkel Serjoscha«), einem Professor für Akustik an der Universität Moskau, und von Nikita Melnikow (»Onkel Nikita«), einem Altmenschewiken 2 , Linguisten, Ingenieur und Schullehrer, den Lew als seinen »zweiten Vater« bezeichnete.
    Lew besuchte eine gemischte Schule in einem früheren Lyzeum in der Bolschaja-Nikitskaja-Straße (separate Jungen- und Mädchenschulen waren 1918 in Sowjetrussland abgeschafft worden). Die Schule, die in einer klassischen Villa des 19. Jahrhunderts untergebracht war, hatte sich viel von ihrer Intelligenzija-Gesinnung bewahrt, als Lew dort begann. Viele Angehörige des Personals hatten bereits vor 1917 dort unterrichtet. Lews Deutschlehrer war der frühere Schulleiter. Der

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