Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
verkohlten Überreste der Bücher des Geistlichen, darunter eine altgriechische Bibel. Diese Sprache, die Lews Großvater hatte lesen können, wurde unter dem Sowjetregime nicht mehr benötigt.
Zu Beginn seines Studiums im Jahr 1935 war Lew zusammen mit seiner (damals 82-jährigen) Großmutter in einer Kommunalwohnungam Leningrad-Prospekt im Nordwesten Moskaus untergebracht. Seine exzentrische »Tante Olga« 3 und ihr Mann mieteten ebenfalls ein Zimmer in der Wohnung. Lew und seine Großmutter hausten in einem schmalen, dunklen Raum. An der einen Seite stand ein Einzelbett und an der anderen eine Truhe, die seine Großmutter als provisorisches Bett benutzte, indem sie die Füße auf einen Hocker legte. Vor dem Fenster am Ende des Zimmers befand sich ein Schreibtisch, und über Lews Bett hing eine kleine Vitrine, in der er seine Sammlung chemischer Geräte und seine Bücher verwahrte: hauptsächlich Mathematik- und Physikbücher, doch auch klassische Werke der russischen Literatur. Wenn Sweta ihn besuchte, saßen sie gewöhnlich auf Lews Bett und unterhielten sich, wobei Tante Olga die beiden argwöhnisch im Wohnungsflur belauschte. Als strikte Kirchgängerin missbilligte sie Swetas Besuche und gab Lew zu verstehen, dass ihrer Meinung nach etwas vor sich gehe. Lew behauptete dann: »Ich bin nur von der Universität mit ihr befreundet«, doch Olga stand weiterhin im Flur neben seiner Tür, um nach »Beweisen« zu lauschen.
Wirklich frei waren Lew und Sweta nur auf dem Lande. Jeden Sommer mietete Swetas Familie eine große Datscha in Boriskowo, einer Siedlung an der Istra, 70 Kilometer nordwestlich von Moskau. Lew besuchte sie entweder mit dem Fahrrad aus Moskau oder nahm den Zug nach Manichina, das zu Fuß eine Stunde von Boriskowo entfernt war. Dann verbrachten Lew und Sweta den ganzen Tag in den Wäldern, lagen am Fluss und lasen Gedichte, bis es dunkel wurde und er den letzten Zug erreichen oder seine lange Rückfahrt mit dem Rad antreten musste.
Am 31. Juli 1936 benutzte Lew den Zug. Da eine Hitzewelle herrschte, war er nach der Wanderung von Manichina arg verschwitzt, weshalb er, bevor er zu Swetas Haus abbog, den Entschluss fasste, in der Nähe von Boriskowo ein kurzes Bad im Fluss zu nehmen. Er zog sich bis auf die Unterhose aus und sprang ins Wasser. Als schlechter Schwimmer blieb er dicht am Ufer, doch die starke Strömung trug ihn davon, und er konnte sich kaum über Wasser halten. Lews Blick fiel auf einen Angler am Ufer, und er rief ihm zu: »Ich ertrinke, Hilfe!« Der Angler reagierte nicht. Lew ging unter, kam noch einmal hoch, rief wieder um Hilfe und versank erneut im Wasser. Ihm fehlte die Kraft, sich zu retten, und er dachte noch, wie dumm es sein würde, so nahe an Swetas Haus zu sterben. Dann verlor er das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kam, saß er am Ufer neben dem Angler. Nach Atem ringend, konnte er nur einen flüchtigen Blick auf seinen Retter werfen, der hinter ihm stand und dem Angler Vorwürfe machte, weil dieser nicht in den Fluss gesprungen war, um einem Ertrinkenden zu helfen. Der Mann ging davon, bevor Lew ihn nach seinem Namen fragen und ihm gebührend danken konnte. Lew verbrachte den Tag bei Sweta und ihren Angehörigen. Am Abend begleiteten Sweta und ihre Schwester Tanja ihn zum Dorfrand, wo sie sich von ihm auf seinem Weg zum Bahnhof verabschieden wollten. Im Dorf stieß Lew auf den Mann, der ihn gerettet hatte. Er war mit einem älteren Herrn und zwei Frauen zusammen. Lew dankte dem Mann und erkundigte sich nach seinem Namen. Der Ältere erwiderte: »Ich bin Professor Sinzow, und das ist mein Schwiegersohn, Ingenieur Bespalow. Dies sind unsere Frauen.« Lew bedankte sich erneut und ging weiter zum Bahnhof, wo Saint-Saëns’ Rondo capriccioso über die Lautsprecheranlage gespielt wurde. Er hörte David Oistrachs wunderschönem Violinsolo zu und wurde von einem mächtigen Gefühl der Lebensfreude überwältigt. Alles um ihn herum schien plötzlich intensiver und lebendiger zu sein. Er war gerettet worden! Er liebte Swetlana! Und diese Freude spürte er nun durch die Musik.
Überhaupt war das Leben voll von ungewissen Freuden. 1935 hatte Stalin verkündet, dass das Leben »besser und fröhlicher« sein werde. Man konnte mehr Konsumartikel, darunter Wodka und Kaviar, kaufen. Es gab mehr Tanzlokale und Unterhaltungsfilme, damit die Menschen etwas zu lachen hatten und sich den Glauben an die helle, strahlende Zukunft nach dem Aufbau des Kommunismus bewahrten. Doch unterdessen
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