Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
Sweta gemeinsam zum Holzkombinat auf. Vom Bahnhof in Petschora gingen sie die Sowjetstraße entlang, einen Feldweg, der zu beiden Seiten von Holzhäusern mit acht Zimmern und »Bürgersteigen« aus auf dem Boden verlegten Brettern flankiert war. Sie bogen in die Moskauer Straße ein, vorbei an einem großen weißen, neoklassischen Gebäude, dem ersten Bauwerk aus Stein am Ort, das gerade für die Verwaltung des Arbeitslagers der Nord-Petschora-Eisenbahn errichtet worden war (man hatte die Verwaltung kurz vorher aus Abes hierherverlegt). Vor dem Gebäude standen Wachleute, doch keiner hielt Sweta an oder verlangte ihre Papiere, obwohl sie als Fremde aufgefallen sein muss. Von der Moskauer Straße gingen Israilewitsch und Sweta an den Baracken der 1. Kolonie und der Autowerkstatt an der Garaschnaja-Straße vorbei, bevor sie zum Haupttor des Holzkombinats gelangten, wo sie den Wärtern erklären wollten, dass Sweta die Frau eines in der Siedlung wohnenden freiwilligen Arbeiters sei.
Der Bahnhof in Koschwa, Ende der 1940er Jahre
Die Sicherheitsmaßnahmen im Holzkombinat waren chaotisch. Es gab ungefähr 100 Wärter, die in der Gefängniszone patrouillierten. Die meisten waren Bauern, die sich nach dem Armeedienst bei Kriegsende hatten anwerben lassen, um nicht auf ihre Kolchosen zurückkehren zu müssen. Viele waren Analphabeten, die meisten tranken übermäßig, und fast alle akzeptierten Bestechungsgelder oder bestahlen die Häftlinge. Außerdem plünderten sie die Vorratslager des Holzkombinats, besonders die Ställe in der Industriezone und die Windmühle neben der 1. Kolonie, wo mindestens ein Dutzend Wärter an einem groß angelegten Diebstahl von Hafer beteiligt war, aus dem sie Wodka für den Verkauf an Häftlinge und freie Arbeiter brannten. 1946 gingen mehrere Tonnen Hafer auf diese Weise verloren.
Wärter am Holzkombinat, Ende der 1940er Jahre
Das Hauptproblem mit den Wärtern bestand darin, dass sie fast ständig betrunken waren. Das Parteiarchiv des Holzkombinats ist voll von Berichten über Disziplinarverfahren, in denen Wärter Verweise erhielten, weil sie »während der Arbeitszeit betrunkenwaren«, »im Rausch das Bewusstsein verloren, während sie in der Wache Dienst hatten«, »sich betranken und mehrere Tage lang der Arbeit fernblieben« und so weiter. Sämtliche Parteiführer waren sich darin einig, dass Trunkenheit unter den Wärtern die größte Gefahr für die Sicherheit darstellte. Häftlinge waren aus dem Lager hinausspaziert, während Wärter in der Hauptwache ihren Rausch ausschliefen. Andere hatten die Wärter bestochen, damit sie Frauen im Ort besuchen konnten, und hatten sogar weitere Gelder angeboten, um wieder in die Barackenzone hineingelassen und beim Löschen der Lichter als »anwesend« gezählt zu werden. Die Entlegenheit von Petschora – innerhalb von 1000 Kilometern gab es nichts als andere Arbeitslager – machte es zu einem natürlichen Gefängnis.
Auch Beispiele dafür, dass Fremde gegen Schmiergeld in die Gefängniszone eingelassen wurden, waren bekannt. Auf einer Parteiversammlung im Holzkombinat wurde 1947 über mehrere Fälle berichtet, in denen Unbekannte ohne Passierschein in die Siedlung gelangten, um freie Arbeiter zu besuchen. Sobald sich die Eindringlinge in der Industriezone befanden, konnten sie sich der Entdeckung entziehen, denn die karge Straßenbeleuchtung – gerademal sieben Glühlampen – diente nicht Sicherheits-, sondern Produktionszwecken. Acht Wachtürme mit Scheinwerfern waren an der Stacheldrahtumzäunung verteilt, doch drei der Scheinwerfer hatten keine Birnen.
Lew Israilewitsch und Sweta erreichten das Haupttor des Holzkombinats völlig ungehindert. Das baufällige Tor war kaum sicherer als der Holz- und Stacheldrahtzaun an seinen beiden Seiten. Es bildete ein Quadrat aus Sperrholzbrettern, bedeckt mit Propagandaparolen, und war oben mit dem Emblem des Arbeitslagers, einem Hammer und einer Sichel, verziert. Rechts vom Tor stand die Wache, wo jeder, der das Holzkombinat betrat oder verließ, dem diensthabenden bewaffneten Wärter einen Passierschein zeigen sollte. Häftlingskonvois wurden beim Betreten und Verlassen des Lagers gezählt.
Als Sweta behauptete, sie sei die Frau eines in der Siedlung wohnenden freiwilligen Arbeiters, ließ der Wärter sie nicht ein, sondern erklärte, dass ihr Mann sie abholen müsse. Israilewitsch, der einen Passierschein besaß, versicherte, er werde ihren »Mann« in der Zone ausfindig machen
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