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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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und zur Wache bringen. Er ließ sie lange warten. Nun begann der Wärter, unflätig mit Sweta zu reden und auf »nördliche Ehefrauen« (Frauen mit Ehemännern, die im Gulag inhaftiert waren) zu fluchen, als habe er ihre List durchschaut. Schließlich erschien Israilewitsch mit dem »Gatten«, einem triefend nassen und offensichtlich betrunkenen freien Arbeiter aus der Siedlung, der die Rolle von Swetas Mann hatte spielen sollen, doch zum Zeitpunkt seines Auftritts im Suff eingeschlafen war, so dass Israilewitsch ihn mit einem Eimer kalten Wassers hatte wecken müssen. »Der Mann sah verlegen aus«, erinnerte sich Sweta. »Damit ich ihn nicht küssen musste, stürzte ich auf ihn zu und fing an zu schimpfen: ›Ich habe dir doch geschrieben! Und du bist zu faul, mich abzuholen!‹ Er tat beschämt und sagte nur: ›Komm schon. Komm schon!‹« Bevor der Wärter weitere Fragen stellen konnte, hatten Sweta und ihr »Mann« die Gefängniszone betreten.
    Sie erreichten das Haus, in dem der »Gatte« wohnte. Wie sich herausstellte, hatte er eine Frau, die nichts von seinem Versprechenwusste, Lew und Sweta dort zusammenkommen zu lassen. Eine wütende Szene entspann sich, in der die Frau ihren Mann, dessen Atem nach Alkohol stank, anbrüllte. »Es war keine Eifersucht«, erzählte Sweta, »sondern Angst davor, dass man ihnen auf die Schliche kommen und sie ins Gefängnis stecken würde«, weil sie Lew und Sweta Beihilfe geleistet hatten. Lew war schon vorher eingetroffen und hatte sich draußen versteckt, um auf Sweta zu warten. Nun tauchte er mitten in der Szene auf und bemühte sich, Sweta vor der wütenden Frau zu schützen. Die beiden hatten sich ihr Wiedersehen bestimmt anders vorgestellt – nicht in dieser schäbigen Unterkunft mit einer zeternden Frau und einem betrunkenen Mann –, doch nun mussten sie sich den Umständen fügen. Sechs Jahre lang hatten sie sich nach diesem Moment gesehnt und sich ausgemalt, dass sie allein und ungestört sein würden. Es war eine gespannte und gefährliche Situation, denn die Frau hätte in ihrer Angst und ihrem Zorn die Wärter herbeirufen können, um ihre eigene Unschuld zu beweisen, und zunächst mussten sie sich damit zufriedengeben, Blicke durch das Zimmer hinweg auszutauschen. »Uns blieb nichts anderes übrig, als unsere Gefühle zu unterdrücken«, entsann sich Lew. »Es war nicht so, dass wir einander in die Arme fallen konnten. Was wir taten, war äußerst kriminell, und wir mussten auf der Hut sein.«
    Das Paar bewohnte zwei Zimmer in der oberen Etage eines der Holzhäuser in der Siedlung. Der eine Raum war möbliert, der andere völlig kahl. »Sie brachten uns zwei Stühle«, erinnerte sich Sweta, »und wir saßen in dem leeren Zimmer, während Freunde von Lew nach einem anderen Versteck für uns suchten.« Schließlich kam die Nachricht, dass sie bei den Alexandrowskis unterschlüpfen konnten.
    Die Alexandrowskis wohnten in einem Haus ganz in der Nähe, doch Maria, eine Telefonistin, hielt sich dort nur mit ihren beiden kleinen Söhnen auf. Ihr Mann Alexander saß im Gefängnis von Petschora (er war in eine Schlägerei im Bahnhofscafé verwickelt worden, wo ihn jemand hatte bestehlen wollen, und musste sich wegen »Vandalismus« verantworten). Maria war für die Nachtschicht inder Telefonzentrale in der Sowjetstraße eingeteilt. Am Nachmittag erwartete sie noch den Besuch eines Wärters und seiner Frau, aber im Anschluss daran würde sie sämtliche Lichter löschen, um anzuzeigen, dass Lew und Sweta ihre Wohnung gefahrlos betreten konnten.
    Sobald die Dunkelheit anbrach, schlichen Lew und Sweta hinaus und bewegten sich so rasch wie möglich auf Marias Baracke zu. Sie gingen den Fenstern gegenüber hinter einem Feuerholzstapel in Deckung und warteten darauf, dass sich die Besucher verabschiedeten. Plötzlich kam ein anderer Wärter auf sie zu. Sie glaubten, er habe sie entdeckt, und fürchteten das Schlimmste: Sweta würde verhaftet und eines Staatsverbrechens angeklagt, Lew würde zusätzliche Jahre ableisten müssen und mit einem Konvoi nach Norden geschickt werden. Aber dann hörten sie, wie der Wärter an die andere Seite des Holzstapels urinierte. Danach entfernte er sich.
    Endlich verließen Marias Besucher das Haus, und die Lichter erloschen. Lew und Sweta schlichen aus ihrem Versteck ins Innere. Die Alexandrowskis verfügten nur über zwei kleine Zimmer. In dem einen stand ein Einzelbett, in dem Maria normalerweise schlief, und in dem anderen befanden sich ein

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