Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
überaus beliebt war, hatten sie dieses Risiko zu seiner Verteidigung auf sich genommen. Ihre Solidaritätserklärung hätte leicht fehlschlagen und zu ihrer eigenen Verhaftung führen können, da die Behörden befugt waren, eine Gruppe von drei Personen bereits als »Organisation« einzustufen.
Diese Episode brachte Lew und Sweta wieder zusammen. Ihre Beziehung hatte sich in der Mitte des zweiten Universitätsjahres abgekühlt, und sie hatten sich seit einer Weile nicht mehr gesehen. Der Bruch war von Sweta ausgegangen, die sich plötzlich aus ihrem Freundeskreis zurückgezogen hatte. Lew verstand ihr Verhalten nicht, denn nach dem vergangenen Sommer hatten sie sich täglich getroffen und Sweta hatte ihn sogar um sein Foto gebeten. Viele ihrer Freunde heirateten mittlerweile, und Lew dürfte gehofft haben, dass auch sie bald verheiratet sein würden, doch dann hatte sie sich ohne jegliche Warnung entfernt. Im Rückblick auf jene Zeit machte Sweta ihre »schlechten Launen« – die Depression, unter der sie einen großen Teil ihres Lebens leiden sollte – für ihr Handeln verantwortlich. »Wie oft«, schrieb sie Lew später, »habe ich es bedauert, dass ich die Dinge zwischen uns verdarb und Dich – Gott weiß, warum – quälte.«
Sobald Sweta herausfand, dass Lew in Schwierigkeiten war, kehrte sie zu ihm zurück. In den folgenden drei Jahren waren die beiden unzertrennlich. Lew traf sie morgens auf dem Weg zur Universität, wartete am Ende der Vorlesungen auf sie, nahm sie mit zum Leningrad-Prospekt, um für sie zu kochen, oder ging mit ihr ins Theater oder ins Kino, um sie dann nach Hause zu begleiten. Poesie war ein wichtiges Element ihrer Beziehung. Sie lasen gemeinsam Gedichte und schickten einander neue Werke. Achmatowa und Blok waren Swetas Lieblingsautoren, doch ihr gefiel auch ein Gedicht von Jelena Rywina, das sie Lew eines Abends bei einem Spaziergang durch die Moskauer Straßen rezitierte. Darin war von der Flüchtigkeit des Glücks die Rede:
Das Glühen deiner Zigarette
vergeht, bevor es neu entflammt.
Wir kommen an Rossis 4 Straße vorbei,
wo die Laternen vergeblich brennen.
Unsere seltene Begegnung ist kürzer
als ein Schritt, ein Moment, ein Hauch.
Warum, lieber Architekt,
ist deine Straße so kurz?
Manchmal, wenn Lew länger arbeiten musste und sich nicht mit Sweta treffen konnte, ging er abends an ihrem Haus vorbei. Bei einer dieser Gelegenheiten hinterließ er folgende Notiz:
Swetka! Ich wollte sehen, wie es Dir geht, und Dich daran erinnern, dass wir Dich morgen, am 29., gern bei uns begrüßen würden. Ich beschloss, nicht in Deine Wohnung einzudringen, denn es ist spät – halb zwölf –, und zwei Deiner Fenster sind schon dunkel, zwei andere halb dunkel. Jemand könnte aufwachen und sich erschrecken. Komm zu mir, wenn Du Zeit hast. Grüße an Deine Mutter und an Tanja.
Im Januar 1940 starb Lews Großmutter. Sweta stand an seiner Seite, als man Lidia Konstantinowna auf dem Wagankowskoje-Friedhof beisetzte.
Im folgenden Monat wurde Lew technischer Assistent am Lebedew-Physikinstitut (auf Russisch als FIAN bekannt). Er war noch im letzten Studienjahr, aber durch eine Empfehlung von Naum Grigorow, einem Freund aus der Physikalischen Fakultät, der gerade zum FIAN übergewechselt war, hatte er nun bereits die Chance, sich mit Forschung zu beschäftigen. Benannt nach Pjotr Lebedew, dem russischen Physiker, dem es gelang, den Druck elektromagnetischerStrahlung zu quantifizieren, war das FIAN eines der führenden Atomphysikzentren der Welt. Im Mittelpunkt seines Forschungsprogramms stand das Kosmische-Strahlung-Projekt, an dem Lew mitwirken sollte. Da er tagsüber studierte, übernahm er im Labor häufig die Spätschicht. Sweta blieb bis abends in der Bibliothek, bevor sie die drei Kilometer von der Physikalischen Fakultät zum FIAN am Mjusski-Platz zu Fuß zurücklegte. Dann setzte sie sich auf die Bank im Hof und wartete auf Lew, der gewöhnlich gegen 20 Uhr erschien und sie nach Hause begleitete. Einmal war er so erschöpft, dass er im Labor einschlief und erst nach 21 Uhr aufwachte. Sweta wartete noch immer auf der Bank und lachte, als er ihr erzählte, was geschehen war.
Lew auf dem Elbrus , 1940
In jenem Sommer nahm Lew an einer wissenschaftlichen Expedition zum Elbrus im Kaukasus teil. Hoch oben in den Bergen betrieb das FIAN eine Forschungsstation, in der Lews Gruppe die Wirkung der kosmischen Strahlen näher an ihrem Eintrittspunkt in die Erdatmosphäre
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