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Schicksal aus zweiter Hand

Schicksal aus zweiter Hand

Titel: Schicksal aus zweiter Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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winkenden Gerippe erschütterte ihn. Er ging nicht aus seinem Ohr, auch als die kleine Wagenkolonne längst das Rheinufer hinab in den Morgen entschwunden war und der weite Platz leer und einsam vor ihm lag.
    Ich bin der letzte, dachte er. Nur ich bleibe zurück, ein Stück dieser Trümmer, die mich überragen. Was ist geblieben von allen Träumen, von allen Plänen, von allem Können? Wo mag Frank Gerholdt jetzt sein? Was war aus Rita geworden? Was wird aus uns allen werden? Zwar scheint eine Sonne noch am Himmel – – – doch wird sie jemals wieder unser Inneres erwärmen?
    Was soll nur werden? Aus mir, aus den singenden Halbtoten, die den Rhein hinabrollten und sich benahmen wie Trunkene, aus Deutschland, das im Feuer unterging?
    Er dachte an seinen Kunststahl, an die himmelstürmenden Pläne, die ihn vor Jahren begeisterten. Und er lächelte müde und setzte sich auf die Trümmer in die Sonne und sah über den Rhein hinüber, der träge um die Gerippe der gesprengten Brücken floß und dessen Wasser lehmgelb oder grau war wie immer. Das einzig Ewige in einer untergegangenen Landschaft.
    So trafen ihn die Panzerspitzen der Engländer an, die von Neuß herüber an den Rhein stießen. Sie jagten Dr. Schwab mit den Kolben ihrer kurzen Gewehre von seinem Trümmersitz empor und setzten ihn als Kühlerfigur vorne auf einen Jeep. Er ließ es mit sich geschehen … wortlos, matt lächelnd, ohne eine Verteidigung. Was sollte er auch sagen? Es war vergebens, etwas zu sagen. Es regierte nur noch der Haß.
    Er umklammerte die Motorhaube, als der Jeep mit rasender Geschwindigkeit aus der Fabrik hinausfuhr und über die Uferstraßen den Rhein hinabraste. Hinter ihm lachten schallend die Engländer. Junge Burschen, groß, kräftig, gut genährt, denen der Krieg zu einem Sport geworden war, seitdem die ausgelaugten deutschen Truppen vor ihnen herliefen wie bewegliche Schießscheiben oder auf den Straßen und Gassen der Städte und Dörfer mit erhobenen Armen standen und zu ihnen sagten: »Jetzt ist die Scheiße vorbei! Habt ihr was zu fressen da?!«
    Sie fuhren über eine Stunde, kreuz und quer am Rhein entlang. Dr. Schwabs Finger wurden klamm und steif, aber er krallte sich an das Eisenblech des Jeeps mit der letzten Kraft fest. Ich will nicht herunterfallen, schrie er sich zu. Ich will ihnen nicht den Gefallen tun und von der Motorhaube hinunterkippen. Ich will nicht!
    Mit geschlossenen Augen, die blonden Haare im Zugwind der Fahrt flatternd, hockte er vorne auf dem Jeep wie die Figur eines Triumphzuges, wie ein Symbol von der Ohnmacht der Geschlagenen.
    Nach einer Stunde stand er vor einem englischen Captain, der ihn kritisch musterte und ihn dann in einem reinen Deutsch ansprach.
    »Sie sind Herr Dr. Schwab?«
    »Sie kennen mich?«
    »Wir haben einen Transport von dreihundert befreiten KZ-Insassen aufgehalten. Sie nannten Ihren Namen.« Der englische Offizier schlug mit der dünnen Lederreitgerte gegen seine braunen Stiefel. Unter der Tellermütze sahen Dr. Schwab helle graue Augen an. »Sie sind sicherlich hungrig, Herr Dr. Schwab. Darf ich Sie zu einem Hühnchen einladen …«
    Schwankend, die Finger noch gebogen, wie sie sich in das Blech des Jeeps krallten, folgte er dem Captain in das Innere einer halbzerstörten, langgestreckten, weißen Landhausvilla. Erst als Dr. Schwab sich in einen tiefen Sessel setzte, erkannte er den Raum wieder.
    Das Haus Frank Gerholdts.
    In der Ecke, neben dem offenen Kamin, stand noch ein Schaukelpferd. Ritas Spielzeug, mit dem sie draußen auf der überdeckten Terrasse herumtobte oder über die Wiese tollte, die hinunter bis zum Rhein ging.
    Der Captain folgte dem Blick Dr. Schwabs. Sein lächelndes Gesicht wurde ernst.
    »Sie kennen das Haus?«
    Dr. Schwab nickte wortlos.
    »Das Haus Ihres ehemaligen Chefs.« Der Captain nahm sein Koppel ab und hängte es mit der Pistolentasche über die Lehne eines jetzt staubigen Kaminsessels. »Er ist ein Kriegsverbrecher. Wenn wir ihn bekommen, werden wir ihn hängen.«
    Husum, die ›graue Stadt am Meer‹, wie sie Theodor Storm nannte, glich in den letzten Kriegstagen und auch später nach der Kapitulation einem riesigen Heerlager.
    Hier, in Schleswig-Holstein, hatte sich eine vollkommen intakte Armee versammelt, zwar mangelhaft bewaffnet und von der obersten Führung ebenso verlassen wie alle Bruchstücke der Armeen, die in Deutschland zurückwankten oder sich den schnellen Truppen Montgomerys und General Pattons ergaben; aber immerhin war es eine

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