Schicksal aus zweiter Hand
…«
Frank Gerholdt stand vor dem großen, schmalen Oberstleutnant und zitterte. Er wollte etwas sagen, aber er war plötzlich ohne Stimme. Es würgte in seiner Kehle. Er streckte die Hand aus und sah, daß sie flatterte, als stemme sie sich gegen einen wilden Sturm. Forsy sah auf die dargereichte Hand und legte die Gerte mit einem peitschenden Schlag auf den Tisch.
»Ich gebe keinem Deutschen die Hand«, sagte er stolz. »Aber sie sollen von uns nicht sagen, daß wir Barbaren sind!«
Beschämt verließ Gerholdt das Haus. Die Gummisohlen der Schnürstiefel seiner beiden Soldaten knirschten hinter ihm her.
Auf dem Platz vor der Kommandantur stand ein kleiner, schmutziger Jeep. Ein leichter, offener Geländewagen, in den man hineinsprang und mit angezogenen Knien sitzen mußte. Aber es war ein Auto … Wer einen Treck durch die russischen Linien durchhielt, der muß auch den kurzen Weg nach Flensburg überleben.
»Fahren wir schnell!« sagte Gerholdt zu den beiden Soldaten. »Wir haben schon zuviel Zeit verloren.«
Sie sprangen in den kleinen Wagen und rasten durch die Stadt zu der Fischerhütte am Meer. Als sie den Raum neben dem ehemaligen Schweinestall betraten, lag Frau v. Knörringen noch immer in völliger Steifheit und in tiefer Agonie. Rita saß neben ihr und weinte. Sie stürzte Gerholdt entgegen, als er den Raum betrat, und verbarg den Kopf mit den langen, blonden Haaren an seiner Brust.
»Muß sie sterben, Papi?« stammelte sie. »Kann sie denn keiner retten?«
Betreten standen die beiden englischen Soldaten herum. Sie blickten sich um, sie atmeten den beißenden Geruch ein, der noch von den Schweinen im Raum lag, sie sahen auf Frau v. Knörringen, und sie mochten wohl an ihre Mütter denken, die drüben in Sussex lebten und ebenso alt waren wie die hilflose Frau auf dem Strohlager vor ihnen.
»Go on!« sagte der eine Soldat leise und stieß seinen Nebenmann an.
Sie bückten sich, nahmen eine Decke vom Boden und breiteten sie über den steifen, kaum atmenden Körper der alten Frau. Während Gerholdt mit dem einen Soldaten Frau v. Knörringen hochhob, eilte der zweite hinaus zum Jeep und schichtete Stroh auf den Hintersitz. Dann legten sie die Kranke in den Wagen, Gerholdt kniete sich davor, damit der Körper nicht durch die rasende Fahrt herunterrollte; sie deckten sie mit dicken amerikanischen Armeedecken, die im Jeep gelegen hatten, zu und fuhren dann langsam über die holprige Klinkerstraße der Vorstadt zu dem asphaltierten Band der Landstraße. Dort erst, auf der glatten Oberfläche, drückte der Fahrer auf das Gaspedal. Der Motor des Jeeps heulte auf, der Wagen schien sich zu ducken und nach vorn zu springen, ehe er über die Straße raste und die Bäume zu beiden Seiten wie ein Gitter wirkten.
Am frühen Nachmittag kamen sie in Flensburg an. Ein Heerlager ohne Beispiel. Der Rastplatz einer geschlagenen Armee, eines besiegten, zertrümmerten Volkes. Sie umfuhren die langen Kolonnen der Gefangenen, die nach der Unterzeichnung der Kapitulation regimenterweise entwaffnet und zur Registrierung in großen Camps gesammelt wurden.
Auf dem Marktplatz hielten sie an.
»Zum Krankenhaus?« rief Gerholdt ein paar Einwohner an.
»Deutsches oder englisches?«
»Das ist gleich!«
Ein paar Straßennamen wurden genannt, die sie nicht verstanden. Der englische Fahrer winkte ab und fuhr weiter. Ab und zu schrie er ein paar englische Kameraden an, fragte Schotten und Kanadier und schlängelte sich durch die mit Soldaten vollgestopfte Stadt bis zu einem langen Gebäude, das einmal eine Schule war und jetzt als englisches Truppenlazarett ausgebaut wurde. Ambulanzwagen luden Bahren und Betten ab, eine fahrbare chirurgische Klinik der Engländer wurde ausgebaut und in das Haus getragen, Lastwagen schafften Verpflegung heran … tiefgefrorene Gänse und Hühner, vereiste halbe Rinder und Schweine, Frischgemüse, in viereckigen Ballen zusammengefroren … Frank Gerholdt sah diese Fülle von Essen und Material und dachte an die ausgehungerten deutschen Divisionen, die sechs Jahre im Dreck lagen und einer Welt standhielten, weil sie nichts anderes besaßen als den Glauben, zu siegen. Zu siegen – wofür?!
Zu siegen für die Heimat? Was war von ihr übriggeblieben …?
Der Jeep schlängelte sich durch die Fahrzeuge hindurch und hielt vor der Treppe der Schule. Ein Sanitätssergeant stand an der Tür und sah verwundert auf den kleinen Wagen mit den Strohballen und dem wächsernen Gesicht einer alten Frau darauf.
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