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Schicksal aus zweiter Hand

Schicksal aus zweiter Hand

Titel: Schicksal aus zweiter Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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noch geschlossene Armee, mit allen Stäben und einer mustergültigen Ordnung; einer straffen Zucht und mit keinerlei Anzeichen der inneren Erweichung behaftet, wie sie die Truppen mit sich führten, die aus Frankreich an den Rhein und über den Rhein strömten und denen man an den Rheinbrücken die französischen Freundinnen von den Wagen holen mußte. Sie waren einfach mitgeflüchtet, um bei ihrem ›süßen chéri‹ zu bleiben.
    Die Engländer sperrten Schleswig-Holstein ab. Es wurde ein riesiges Gefangenenlager, in dem die Armee weiterhin mit Selbstverwaltung, mit allem Ehrenkodex und sogar mit den Waffen in der Hand auf das Ende der Verhandlungen wartete, die in Flensburg von Großadmiral Dönitz geführt wurden.
    Der Krieg war zu Ende. Der Russe stand östlich der Elbe und in Berlin. Er würde nie nach Nord- oder Westdeutschland kommen. Das war die große Beruhigung der Millionen, die aus den Bunkern und Kellern krochen, die aus den Wäldern zurück in die Städte zogen und in den Trümmern wühlten, Notdächer errichteten, Keller säuberten und Matratzen auf den Boden legten, aus Abfallholz Fenster zimmerten und sich in das zerstampfte Land einnisteten, weil es die Heimat war, die über alles geliebte Heimat, die nie stirbt, auch wenn sie aus Tausenden Wunden blutet.
    Auch Frank Gerholdt, Rita und die zu einem Gerippe abgemagerte Frau von Knörringen waren dem Russen entkommen und lebten am Rande Husums in einer Fischerkate. Sie schliefen in einem Raum neben dem Schweinestall, wo früher die Futtersäcke überwinterten. Er war sauber gefegt worden und mit schwarz gebändeltem Kalk geweißt, aber der im Holz und in den Decken seit Jahrzehnten innewohnende Geruch des Schweinestalls, jene starke Mischung von Ammoniak und Kot, wurde trotz aller Sauberkeit nicht vertrieben und legte sich des Abends über die drei Schlafenden wie eine ätzende Decke …
    In den ersten Tagen hatte Frank Gerholdt versucht, mit seiner Fabrik eine Verbindung aufzunehmen. Das stellte sich als unmöglich heraus. Die Telefonverbindungen und auch die Post waren von dem riesigen Gefangenenlager Schleswig-Holstein zur Außenwelt abgeschnitten. Was jenseits des Rheins geschah, war so weit entfernt wie ein Fleck der sibirischen Taiga. Selbst eine Rückkehr zur Fabrik war so lange unmöglich, wie der Waffenstillstand und die Kapitulation nicht endgültig mit allen kriegführenden Großmächten abgeschlossen und unterschrieben war.
    Frau von Knörringen, die die Flucht aus Ostpreußen und den schrecklichen Treck durch die Weiten Ostdeutschlands durchgestanden hatte, brach in Husum, in der endlichen Geborgenheit und beim Bewußtsein, den Russen wirklich entronnen zu sein, zusammen. Sie lag eines Morgens steif wie ein eingefrorener Körper in ihrem Bett und starrte stumm auf Frank Gerholdt, der sie rüttelte und sie ansprach. Sie bewegte die Lippen, aber sie sprach nicht … sie zuckte mit den Muskeln des Armes, aber er hob sich nicht. Entsetzen trat in ihre Augen, die sich weiteten und um Hilfe schrien – dann verlöschten auch die Augen, und sie lag da wie eine Tote.
    Frank Gerholdt holte den nächsten Militärarzt in die Hütte am Meer. Er untersuchte Frau von Knörringen und schüttelte zweifelnd den Kopf.
    »Ein vollkommener Nervenschock. Lähmung aller Körperfunktionen.« Er hob die Schultern und sah Gerholdt mit schräg nach oben gerichtetem Kopf an. »Ihre Mutter?«
    »Nein. Aber ich habe ihr viel zu verdanken. Sie hat meine Tochter in der schwersten Zeit betreut.«
    Der Arzt erhob sich von dem Strohbett. »Hoffnungslos«, sagte er leise. »Ein einziger Trost: Sie wird sterben, ohne Qualen, ohne Kampf. Das Herz wird einfach aussetzen.« Er setzte die Feldmütze wieder auf und drückte Gerholdt die Hand. »Ich danke Gott, wenn ich einmal so ruhig sterbe …«
    Es war für Gerholdt kein Trost, dies zu wissen. Er stemmte sich gegen das Unabänderliche und gegen die Erkenntnis, daß Frau von Knörringen jetzt, gerade jetzt am Ziel ihrer Irrfahrt, einfach verlöschen sollte, wo in einer zwar noch verhangenen Zukunft die Hoffnung aufglomm, die letzten Jahre in einer zufriedenen Geborgenheit verbringen zu können.
    Er lieh sich ein Fahrrad und fuhr nach Husum hinein zu dem großen Reservelazarett. Aber dort begegnete er nur Achselzucken und der lakonischen Auskunft: »Mann – Lähmung durch Nervenschock! Wie stellen Sie sich das vor? Wir sind hier, um Wunden zu verbinden und das englische Penicillin zu verspritzen.«
    »Sie wird sterben, wenn

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