Schicksal aus zweiter Hand
hängen …«
Er sagte ›hanging‹, und dieses Wort ›hanging‹ füllte den Raum so mit Grauen, daß Dr. Schwab zu frieren begann und das Glas in seiner Hand zitterte …
An einem Donnerstag – sieben Tage nach der Abfahrt des Güterzuges von Flensburg – trafen Gerholdt und Rita in Düsseldorf ein und fuhren mit zwei geliehenen Fahrrädern den Rhein hinab zur Fabrik.
Sie hatten in Düsseldorf ihren Kleidersack in der notdürftig zusammengeflickten Handgepäckaufbewahrung des Hauptbahnhofes abgegeben und fuhren nun langsam durch die Maisonne den Rhein hinab. Die weitgespannten Brücken lagen im Strom, zerfetzt, klagende Trümmer, deren Eisengerippe in den warmen, blauen Himmel ragten wie Knochenfinger eines Toten. Eine Pionierbrücke der Engländer überspannte mit vielen Pontons den Rhein. Die Wagen mußten langsam im Schritt fahren, damit sie nicht schwankte und auseinanderbrach. Auch Rita und Frank Gerholdt überquerten den Rhein auf diesem schwankenden Eisensteg und fuhren dann weiter, vorbei an den Trümmern der Häuser, an verbrannten Gehöften, an verwilderten, versteppten Feldern, an verhärmten Bauern, die mit Handkarren die Bombentrichter auf den Weiden und Äckern zuschütteten und in kleinen Gärten mühsam die Pflänzchen für den Gemüseanbau zogen.
Dann – nach drei Stunden Fahrt durch die wärmende Sonne, sahen sie die Fabrik.
Ein Gebirge von Steinen und Trümmern.
Ein Gewirr von Eisenträgern und herabhängenden Betondecken.
Leergebrannte Schuppen, verkohlte Autowracks, verrostende Maschinen.
Auf den Trümmern, wie zum Hohn hingesetzt, das erhalten gebliebene Stahlschild des Einganges: Rheinische Stahlwerke KG.
Kein Arbeiter, kein Tier … nur Trümmer und geschwärzte Balken. Eine Stätte des Todes, des vollkommenen Unterganges.
Mit zusammengebissenen Lippen stand Frank Gerholdt vor dem Untergang seines Lebenswerkes. Auch Rita war stumm. Sie starrte auf die Trümmerstätte, und in ihren Augen war ein Staunen und ein Unglaube, als begriffe sie gar nicht, was sie sah.
»Wir sind zu Hause«, sagte Gerholdt bitter. Er legte den Arm um Ritas schmale Schulter und drückte den blonden Lockenkopf an sich, als wolle er sie vor dem grauenhaften Anblick schützen.
»Hier?« fragte sie kläglich.
»Ja, hier! Wir werden die Steine wegtragen, wir werden die Eisenträger gerade biegen, wir werden uns Mörtel besorgen, Zement, Kalk … wir werden jeden Stein einzeln abklopfen und stapeln … und dann bauen wir, Rita! Wir werden ein neues Leben aufbauen. Ein schöneres Leben! Ein ruhigeres Leben! Wir lassen uns nicht unterkriegen, Rita. Wir nicht!«
»Nein, Papi«, sagte Rita tapfer.
Plötzlich standen ihr die Tränen in den großen, blauen Augen. Dicke Tränen, die lautlos über die eingefallenen, blassen Wangen rollten wie kleine, gläserne Kugeln, in denen sich die Sonne bricht.
»Und unser Haus, Papi?«
»Auch das bauen wir wieder auf.«
»Vielleicht steht es noch …«
»Glaubst du?« Er versuchte sie zu trösten und nickte mehrmals. »Natürlich wird es noch stehen. Warum sollten sie es auch bombardieren. Es war weit und breit kein Ziel da … nur unser Haus am Rhein. Vielleicht steht es wirklich noch –« Er sah Rita mit einem Augenzwinkern an. Und so schwer es ihm fiel, jetzt ein wenig fröhlich zu sein, so verblüfft war er über seine Worte. Sie gaben ihm Trost. Wirklich! Er glaubte es fast selbst, daß das breit am Rhein gelagerte, weiße Haus mit den Terrassen und den breiten Glastüren noch stand. Nur würde es bewohnt sein, wenn es unversehrt war … bewohnt von Obdachlosen, die Besitz nahmen von einem Dach, unter dem kein Hausherr mehr wohnte und von dem keiner wußte, wie er hieß, wie er aussah, wo er war. Verschollen … Irgendwo in Deutschland … In den Weiten Ostpreußens … das wußte man vielleicht.
»Fahren wir«, sagte Gerholdt. »Auch wenn hier nur Trümmer sind … wir sind zu Hause. Es sind unsere Trümmer! Unsere! Die kann uns keiner nehmen! Und auf Trümmern bauen wir auf …« Und leise fügte er hinzu: »Ich habe es bisher immer getan –«
Sie fuhren eine kurze Strecke, bis sie das Haus am Rhein liegen sahen. Das weiße, langgestreckte, flache Haus inmitten eines grünen, kurzgeschorenen Rasens.
Rita umklammerte die Lenkstange des Rades, als sie oberhalb des Hauses auf der Landstraße abstiegen und hinabblickten auf den weißen Bau. Aus der Esse des offenen Kamins zog eine dünne Rauchwolke in den blauweißen Himmel.
»Es steht … Papi, es steht –«
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