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Schicksal aus zweiter Hand

Schicksal aus zweiter Hand

Titel: Schicksal aus zweiter Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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–«
    Sie fuhren stumm die Straße zurück zur zerstörten Fabrik. Auf halbem Wege kam ihnen eine einsame Gestalt entgegen. Sie trug einen hellen, etwas zu weiten Rock, einen Leinenhut und beige Hosen. Als die Gestalt die beiden Radfahrer sah, blieb sie stehen und riß den Hut vom Kopf. Blonde, von grauen Strähnen durchsetzte Haare flatterten im frischen Maiwind, der durch die Rheinniederung wehte.
    »Dr. Schwab!« schrie Frank Gerholdt auf. Er sprang mit einem Satz vom Rad, er warf es fort und stürzte auf den einsamen Mann zu. Er umarmte ihn, riß ihn an sich und drückte ihn wie einen wiedergefundenen Bruder. »Daß ich Sie sehe, daß ich Sie treffe, gerade jetzt … Dr. Schwab … Mensch, Bruder … Jetzt habe ich keine Angst mehr vor dem Morgen …«
    »Sie leben!« Das war alles, was Dr. Schwab sagte. Er sah zu Rita hinüber, die neben ihrem Rad stand, ein junges, dreizehnjähriges schlankes, hübsches Mädchen, über dessen blasses Gesicht das Leuchten der Sonne zog und den Gram aus den Poren glättete.
    Dr. Schwab löste sich aus der Umklammerung Gerholdts und umarmte Rita. Er küßte sie auf die Stirn und hatte das unendlich glückliche Gefühl, einen Teil seines Lebens wiedergefunden zu haben und an sich zu drücken, um es nie wieder zu verlieren. Er wunderte sich selbst über die innere Verbundenheit zu diesem fremden Kind, das ihn glücklich aus seinen hellen blauen Augen ansah und über dessen Gesichtchen plötzlich ein Schleier zog, als zöge man einen Vorhang über seine Augen.
    »Sie wohnen in unserem Haus, die Engländer, Onkel Schwab«, sagte Rita. »Und Papi sagt, wir müssen jetzt im Keller der Fabrik wohnen.«
    Dr. Schwab wandte sich zu Gerholdt um, der mit entblößtem Kopf im Frühlingswind stand. Weiße Haare, dachte Dr. Schwab erschrocken. Er ist in wenigen Wochen ein alter, knochiger Mann geworden. Wenn er wüßte, was ihn hier in der ›Heimat‹ erwartet. »Hanging« hatte Oberstleutnant Piget gesagt und dabei an seinem Portweinglas genippt. »Er ist ein Kriegsverbrecher! Wir werden kurzen Prozeß machen. Ungeziefer vernichtet man –«
    Dr. Schwab schluckte mehrmals, ehe er zum Sprechen ansetzte.
    »Sie waren schon in Ihrem Haus, Herr Gerholdt?«
    »Am Haus! Ich durfte es von der Straße aus betrachten. An meinem eigenen Zaun stand ein großes Schild: Off limits. Außerdem wußte ich nicht, ob ich willkommen war.«
    »Sie haben es nicht betreten?« Dr. Schwab atmete sichtlich auf.
    »Nein.«
    »Das ist gut.« Dr. Schwab blickte zu Rita und blinzelte zu Gerholdt hinüber. »Ich muß Ihnen später etwas erzählen. Später …«
    Frank Gerholdt verstand. Er nickte langsam. Über sein verhärmtes Gesicht zog ein resignierendes Lächeln.
    »Am Ende«, sagte er leise. »Vollkommen am Ende –«
    »Es scheint so …«
    »Gehen wir.«
    Sie gingen zusammen die Straße zurück zur zerstampften Fabrik. Über den in der Sonne und durch den widerspiegelnden blauen Himmel fast azurnen leuchtenden Rhein glitt ein kleines, weißgraues Boot. Englische Flußkontrolle. Im Fahrtwind knatterte der Union Jack. Auf der gegenüberliegenden Uferseite arbeitete eine deutsche Kolonne an der Bergung von zwei gesunkenen Brückenrampen. Über die rechtsrheinische Straße zogen grüne Wagenkolonnen den Rhein hinauf nach Düsseldorf. Nachschub der Sieger.
    Dr. Schwab stand mit Gerholdt an der zerfetzten Laderampe der Fabrik, und sie sahen über den Strom. Rita schlief. Vier Räume der unterirdischen Fabrik waren noch bewohnbar. Die Entlüftungsanlage arbeitete, die Wasserpumpen summten, ein Akkumulator gab Strom. Dr. Schwab hatte in den vergangenen Monaten nicht geruht … mit sechs freiwilligen Arbeitern hatte er langsam und nach dem System der Zweckmäßigkeit die Aufräumungsarbeiten begonnen. Zuerst unter der Erde … die Trümmerberge über der Erde brauchten Zeit und Geld und vor allem einen Sinn zur Wegräumung. Manchmal stand Dr. Schwab vor dem vernichteten Werk und schüttelte den Kopf. Gab es noch einen Sinn? Sprach man nicht von Demontierung der großen deutschen Werke? Vom Zerschlagen des deutschen Wirtschaftspotentials? Von der totalen Vernichtung der Deutschen als Industrievolk! »In zwanzig Jahren werden im Ruhrgebiet die Kuhherden auf riesigen Steppen weiden!« hieß es in den Haßgesängen der Presse. »Deutschland hat für alle Zeiten aufgehört, eine Großmacht zu sein!«
    Aufbauen? Für wen? Für was?
    So kroch auch Dr. Schwab zunächst unter die Erde und räumte auf. Er schuf ›Wohnraum‹! Ein

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