Schicksal aus zweiter Hand
Über Ritas Körper flatterte ein Zucken. Dann schluchzte sie und biß die Lippen aufeinander. Ich will tapfer sein, dachte sie. Ich will nicht weinen. Papi weint ja auch nicht. Aber wir haben unser Haus wieder, wir können in unserem Haus schlafen, Frau v. Knörringen wird nachkommen, ich werde wieder über die Wiese rennen können, hinunter zum Rhein … Unser Haus … unser Haus …
Frank Gerholdt nickte. Er sah vor der Eingangstür an einem Fahnenmast eine britische Fahne im Wind wehen. Im Garten, dort, wo früher die Küchenkräuter und das Gemüse angepflanzt wurden, parkten drei Jeeps. Es war fast, als hörte er aus dem Inneren des Hauses das Wimmern des Radios … Jazz, Blues … Glenn Miller, Louis Armstrong, Bing Crosby, Frank Sinatra …
»Unser Haus –«, sagte er leise. »Unser schönes gerettetes, fernes Haus –«
»Fernes Haus –?«
»So fern wie Ostpreußen, Rita. Ein Traumgebilde, das zerfliegt, wenn man die Augen öffnet.«
»Aber es ist doch da, Papi. Ich sehe es doch. Ich sehe doch den Rauch aus dem Kamin, ich sehe die Wiese, die Büsche, die Fliederhecke, den Goldregen, die Forsythien …«
Sie wollte von der Straße auf die Einfahrt hin abbiegen, als er sie festhielt und den Kopf schüttelte.
»Uns gehören die Trümmer, Rita«, sagte er dumpf.
»Welche Trümmer, Papi?«
»Die Trümmer dort hinten. Unsere zerstampfte Fabrik. Dort werden wir wohnen, Rita. Hausen vielleicht in einem der Räume der unterirdischen Bunker. Wie Ratten mit den Ratten … das ist das Los der Besiegten.«
Rita sah hinüber zu dem langen, weißen Haus. In ihre blauen Augen trat Verwunderung. Die Stirn unter den langen, blonden Locken kräuselte sich. Sie sah jetzt auch die Jeeps und die englische Fahne, und sie sah am Einfahrtstor ein Schild: Headquarter II./ 4./1. Army Sc.
»Soldaten, Papi.«
»Schotten! Das Hauptquartier …«
»In unserem Haus …«
»Darum müssen wir gehen. In die Trümmer, Rita.«
»Aber es ist doch unser Haus!«
»Es war auch unser Krieg. Und wir haben ihn verloren. Nicht nur den Krieg, Rita – alles haben wir verloren. Wir sind zum Ungeziefer in Europa geworden.«
»Du auch? Und ich auch?«
»Wir alle. Auch du, Rita. Und auch ich. Vor allem ich. Ich habe an diesem Krieg verdient. Millionen verdient. Und Millionen verloren. Was man mir gelassen hat, sind einige hunderttausend Steine und verbogene Eisenträger. Zerfetzte Betondecken, verrostete Maschinen und verbrannte Schuppen. Aber es ist genug für uns, Rita! Aus Steinen, Trümmern, verbranntem Holz und verbogenem Eisen bauen wir uns unsere neue Welt, unsere bessere Zukunft!«
Rita wandte sich ab. Ihre Stimme klang traurig, das unterdrückte Weinen zitterte in ihr wider und das Nichtbegreifen des kindlichen Gehirns.
»Komm, Papi. Fahren wir zurück.«
Aber bevor sie auf das Rad stieg, sah sie noch einmal zurück auf das weiße Haus am Rhein.
Die Wiesen … darauf war sie mit dem Pony geritten, bis es durch Tiefflieger getötet wurde. Die Büsche … dort hatte sie immer Verstecken gespielt, und Dr. Schwab hatte sie gesucht und so getan, als sehe er sie nicht, wenn ihr helles Kleid durch das grüne Blattwerk leuchtete. Und dort … das mit rotem Sandstein ummauerte Becken … Dort lag sie im Sommer oft im Schatten einer Trauerweide und beobachtete mit angehaltenem Atem, wie die durstigen Vögel sich am Rand des Wasserbeckens niederließen und die spitzen, in der Sonne aufblitzenden Schnäbel in das klare, kalte Wasser tauchten, das von einem wasserspeienden großen Fisch immer wieder frisch ins Becken lief. Manchmal saß Papi hinter ihr im Schatten des Baumes und erklärte ihr die Vögelchen. Dort – eine Bachstelze … und dort, der Kleine mit dem bunten Gefieder, mit den weißen Streifen an den Flügelchen, das ist ein Buchfink. Der grüne dort – ein Distelfink … oh, wie voll Wunder war doch die Welt.
Über Ritas Wangen liefen wieder die großen, dicken, lautlosen Tränen, die Glaskugeln des Schmerzes. Sie tastete nach der Hand Gerholdts, der mit bleichem, verbissenem Gesicht an seinem Rad lehnte und in dessen Brust das Herz brannte, als verglühe es unter tausend Feuern.
»Werden wir es nie wiederhaben, Papi …«
»Ich weiß es nicht, mein Kleines.« Es würgte in seinem Hals. »Vielleicht arbeitet die Zeit für uns …«
»Die Zeit, Papi?«
»Der Mensch ist auf den Menschen angewiesen. Vielleicht ruft man auch uns eines Tages aus den Kellern ans Licht … weil sie die Keller brauchen für einen neuen Krieg
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