Schicksal aus zweiter Hand
Wort, das in diesen Wochen wie ein Zauberspruch wirkte. ›Wohnraum‹! Er gab den sechs ausgebombten Arbeitern je ein Bunkerzimmer, er wohnte in zwei Räumen … nun war Frank Gerholdt mit Rita zurückgekommen. Der ›Kriegsverbrecher‹. Der ›KZ-Schinder‹, wie man ihn bei den Tommies nannte. Der ›Freund Görings‹, denn hatte er nicht aus den Geldquellen des Vierjahresplanes Millionen für Rüstungsaufträge erhalten? Ein Gewinner am Sterben von Millionen Menschen, ein Aasgeier der Geschichte.
»Man suchte Sie«, sagte Dr. Schwab langsam.
»Ich habe es fast geahnt.«
»Sie gelten als eine Schlüsselfigur der deutschen Kriegswirtschaft.«
»Ich?« Frank Gerholdt lachte kopfschüttelnd. »Wer war ich denn, Dr. Schwab? Ein ganz kleiner Kacker, der so hüpfte, wie sie in Berlin auf der Flöte spielten. Eine tanzende Kobra ohne Giftzähne. – Hat die Konkurrenz mich angeschwärzt?«
»Es gibt keine Konkurrenz mehr.«
Frank Gerholdt sah sinnend über den Strom. »Und die Millionen Arbeiter?«
»Soweit sie nicht in Gefangenschaft sind, räumen sie auf. Sie haben Düsseldorf gesehen – so wie dort sieht es fast in jeder Stadt aus. Aus Deutschland ist eine Mondlandschaft geworden.«
Gerholdt nickte. »Aber deswegen sind wir nicht auf dem Mond, lieber Dr. Schwab«, sagte er sarkastisch. »Im Gegenteil – jetzt wird es sich zeigen, ob der Deutsche in die Hände spucken kann. Morgen fangen wir an …«
»Womit?«
»Mit der Fabrik, Dr. Schwab.«
Der Wissenschaftler starrte Gerholdt ungläubig an, als habe er die Worte nur halb verstanden.
»Das dürfte doch wohl ein schlechter Scherz sein.«
»Es ist ernsteste Wahrheit! Wir werden Steine klopfen und mauern … und wenn wir die Steine mit dem eigenen Schweiß zusammenkleben! Ich lasse mich nicht unterkriegen durch Krieg und Zerstörung, durch Anklagen als Kriegsverbrecher und die Aussicht, von den Engländern gehenkt zu werden.«
»Man wird Sie einfach enteignen!«
»Mit welcher Begründung? Wenn ich Kriegsverbrecher bin, weil ich überharten Stahl herstellte, dann sind alle englischen und amerikanischen Werksdirektoren auch Kriegsverbrecher, denn auch sie produzierten ja für den Krieg. Ausschließlich für den Krieg. Nur haben sie ihn gewonnen – das ist der Unterschied!«
»Das ist Ihr Urteil, Herr Gerholdt! Der Sieger hat immer recht.«
»Es gibt eine Weltöffentlichkeit!«
»Was verlangen Sie von ihr? Gnade? Erkenntnis? Haben wir nicht die ganze Welt bekämpft? Wir größenwahnsinnigen Deutschen?«
Frank Gerholdt sah hinüber zu den endlosen Nachschubkolonnen auf der gegenüberliegenden Rheinstraße. Dodge nach Dodge … eine alles überwälzende Flut von Material. Davor zogen an Stahlleinen ausgehungerte deutsche Arbeiter Eisenstücke aus dem Rhein. Symbol des Untergangs …
»Ich werde morgen zu den Engländern fahren.«
»Verrückt! Sie sollten sich verstecken!«
»Damit würde ich eine Schuld zugeben! Nur wer sich schuldig fühlt, versteckt sich! Ich aber habe ein reines Gewissen. Ich habe produziert wie alle Fabriken! Daß es eine Konjunktur war – bin ich der Staatschef? In der ganzen Welt ist der Krieg letztlich immer nur ein Geschäft der Industrie! Jede Aufrüstung wird mit dem Triumphgeschrei der Industrie begrüßt … nicht nur bei uns in Deutschland. Überall auf der Erde! Wie kann man da von einer persönlichen Schuld reden? Von meiner Schuld?«
»Man will Deutschland restlos zerschlagen, Herr Gerholdt. Ein Deutschland ohne Industrie ist ein Nichts. Dieses Vakuum soll geschaffen werden!«
»Im Herzen Europas? Ein Vakuum? Medizinisch gesehen käme das einem Herzschlag Europas gleich!«
»Sie reden noch in der Ideologie des Tausendjährigen Reiches! Es ist, als ob Sie aus dem Grauen nichts gelernt hätten!«
»O doch, Dr. Schwab … o doch, sehr viel.« Gerholdt drehte sich herum. Sein verfallenes Gesicht mit den langen weißen Haaren belebte sich unheimlich. »Ich habe das Wichtigste unseres Daseins gelernt: daß es kein Unmöglich gibt! Daß es keine Schwäche geben darf, um weiterzuleben! Daß es ein Hindurch gibt … das Hinlegen und Sterben ist zwar das Bequemste, aber auch das Ärmlichste!«
»Pathetische Reden!« Dr. Schwab strich sich wütend über die Stirn. »Wir leben hier nicht auf einer Bühne des Schillertheaters, sondern in den Trümmern eines verlorenen Krieges und in einer Umwelt, die Rache nehmen will! Wissen Sie, was Rache ist?«
»Wer weiß das besser als ich«, sagte Gerholdt bitter. Er dachte an sein
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