Schicksal aus zweiter Hand
abzählbaren Drehbänke und Bohrer, verrotteten und verrosteten zwischen den Trümmern der Hallen und stellten nur noch Schrottwert dar, um den sich keine alliierte Demontagekolonne kümmerte. Entflechten konnte man ihn auch nicht, denn seine Fabrik stellte einen Privatbesitz dar, einen so kleinen Privatbesitz im Reigen der ganz großen Konzerne, daß es lächerlich gewesen wäre, ihm die Trümmer und gesprengten unterirdischen Räume auch noch zu enteignen. Aber man entmündigte ihn. Vorerst nur – aber bei seiner Entlassung an jenem Novembertag, an dem Dr. Schwab allein mit einer Taxe am Gefängnistor von Werl stand, wußte er, daß nicht mehr er, Frank Gerholdt, sondern der Dipl.-Ing. Dr. Schwab der Leiter eines Werkes war, das praktisch nur auf dem Papier einen Namen hatte.
Ein Schattendasein voller Ironie.
»Willkommen!« sagte Dr. Schwab und drückte Gerholdt die Hand, als er aus dem großen Zuchthaustor trat, den Mantelkragen hochgeschlagen, ohne Hut, die weißen Haare um den schmalen Kopf geklebt vor Nässe. »Jetzt wirklich willkommen in der Freiheit!«
Gerholdt drückte Dr. Schwab die Hand. In seinen Augen lag ein großer Zweifel.
»Glauben Sie das wirklich?«
»Wir haben eine neue Währung, wir haben festes Geld – – – die Zeit stand nicht so still hier draußen wie bei Ihnen drinnen in der Zelle. Ich habe sogar einen Kredit bekommen für den Wiederaufbau.«
»Einen Kredit?«
»Zweihunderttausend Mark.«
»Zweihunderttausend Mark?« Gerholdt lachte bitter und schüttelte den Kopf. »Ein Taschengeld für den Müllabfahrer, der meine Fabrik abräumt!«
Dr. Schwab faßte Gerholdt unter und schob ihn zu der Taxe. Er drückte ihn in den Sitz, lief um den Wagen herum und ließ sich an der anderen Seite neben ihm nieder. »Wir haben sofort nach dem Abzug der englischen Besatzung – – –«
»Sie ist aus meinem Haus heraus?« Der Kopf Gerholdts fuhr herum. In seine trüben, müden Augen trat ein leuchtender Funken. »Rita wohnt wieder in unserem Haus?«
»Ja. Wir haben es in eineinhalb Jahren wieder langsam, Stein für Stein, aufgebaut. Es ist wie früher, Herr Gerholdt – vielleicht noch schöner – – –«
»Dr. Schwab – – –« Gerholdt schluckte und tastete nach den Händen des Gelehrten. Er umklammerte sie mit seinen dürr gewordenen Fingern und drückte sie immer und immer wieder. Über sein gelbweißes Gesicht lief ein Zucken, das er verbergen wollte und das doch immer wieder zu seinen Augen lief und sie feucht werden ließ. »Dr. Schwab – – –«, sagte er leise. »Wenn ich jemals den Glauben an die Menschen verloren hatte – – – Sie allein wären es wert, wieder an sie zu glauben. Ich kann Ihnen nicht danken … ich kann es nicht, weil ich nicht weiß, wie – – –«
Dr. Schwab sah aus dem Fenster des durch den Regen quietschenden Wagens. »Die Freude Ritas ist mir Dank genug«, sagte er stockend. »Sie hätten sie sehen sollen, als sie wieder das Haus betrat und über die Wiese hinunter zum Rhein rannte. ›Unsere Wiese!‹ rief sie immer. ›Unsere Wiese. Unser Rhein! Unsere Blumen! Alles, alles ist noch da!‹ – Da habe ich geweint, ich alter Esel. Ich habe auf der Terrasse gestanden und habe geheult wie ein Weib. Ich werde es nie vergessen – – –«
Frank Gerholdt saß weit zurückgelehnt in dem Polster des Wagens und hatte die Hände vor das Gesicht gelegt. Durch seinen Körper lief ein Zittern, und so sehr er die Hände gegen den Mund preßte, – er konnte nicht das Schluchzen hemmen, das ihn durchschüttelte und ihn so gewaltig ergriff, daß es war, als löse sich die Verkrampfung der ganzen schrecklichen Jahre in diesem haltlosen Schluchzen eines alt gewordenen, weißhaarigen, vom Schicksal gestraften Mannes.
Dr. Schwab ließ ihn weinen. Er lehnte sich zurück und legte seinen Arm um die Schultern des schluchzenden Mannes. Wie einen kleinen Bruder drückte er ihn an sich, und Gerholdt legte den Kopf auf seine Schulter. Weine dich aus, dachte Dr. Schwab. Schäme dich nicht, daß du weinst. Keiner weiß, wer du bist, keiner weiß, wo du herkamst … aber seit man dich gesehen hat, warst du ein Mensch, dem das Glück seines Kindes über alles ging, der einen Todesmarsch durch die russischen Linien wagte, der Frau von Knörringen rettete, dem kein Schicksal zu hart war, um es nicht bekämpfen zu können. Du hast ein Recht, zusammenzubrechen … jetzt, mein Lieber, bei der Fahrt in ein neues, freies Leben, in eine andere Welt, in einen freieren Himmel,
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