Schicksal aus zweiter Hand
bisheriges Leben und an Petermann.
»Und trotzdem wollen Sie zu den Engländern gehen? Sie werden Sie einfach dabehalten und aufhängen!«
»Sie glauben, ich fürchte mich davor?«
»Und was soll aus Rita werden?«
Gerholdt fuhr herum. »Für Rita tue ich es ja!« schrie er etwas unbeherrscht. »Ich würde weiterleben können als Steineklopfer oder Bauernknecht. Ich nähme jede Arbeit an. Das Sitzen hinter dem Direktionstisch hat mich nicht verwöhnt. Aber ich habe eine Verpflichtung: für Rita alles dies hier wieder aufzubauen. Ich habe eine Verpflichtung, Rita nie in Not zu lassen … Sie werden das nie verstehen, Dr. Schwab. Sie können es gar nicht.«
»Ihre Vaterpflichten in allen Ehren –«
Gerholdt wandte sich ab. »Vaterpflichten! Lieber Dr. Schwab, danken Sie Gott, daß Sie noch so normal denken können, so herrlich frei und naiv … wie herrlich wäre das Leben, wenn es so wäre wie Sie …«
Er wollte das Ufer verlassen, aber Dr. Schwab hielt ihn am Rockärmel zurück.
»Sie wollen wirklich zu Oberstleutnant Piget gehen?« fragte er heiser vor Erregung.
»Wer ist das?«
»Der Abschnittskommandant.«
»Der in meinem Haus wohnt?«
»Ja.«
Gerholdt schüttelte den Kopf. »Nein. Ich gehe nach Düsseldorf zum Generalkommando. Ich werde, wenn es nötig ist, zum Oberkommando der Briten fahren. Zu Montgomery selbst.«
»Sie sind ein unheilbarer Phantast!« schimpfte Dr. Schwab.
Gerholdt lächelte versonnen. »Wie oft habe ich dieses zu hören bekommen. Immer war ich ein Phantast, bei allem, was ich unternahm. Und immer habe ich gezeigt, daß ich aus einer Phantasie eine Realität machen konnte.«
»Wir leben jetzt in einer anderen Welt.«
»Wie es heißt: in einer besseren. Ich will sehen, ob es stimmt. Wir fangen morgen an! Wir klopfen die Steine ab und schichten sie. Ich werde in Düsseldorf einige Eisenträger verkaufen, um Zement und Kalk zu bekommen. Den Sand holen wir uns aus dem Rhein! Wir bauen wieder auf, Dr. Schwab!«
»Morgen werden die Engländer hier sein. Sie kommen jeden Tag. Sie erwarten Sie! Piget sagt: Er kommt zurück! Er verläßt seine Fabrik nicht!«
»Wie gut er mich kennt.«
»Aber Sie kennen Piget nicht.«
»Das läßt sich nachholen! Ich werde ihn kennenlernen –«
Kopfschüttelnd, mit einer würgenden Angst im Herzen, sah Dr. Schwab Frank Gerholdt nach, wie er über die Trümmer der vorderen Halle in den Fabrikhof kletterte und mit den sechs Arbeitern sprach, die in der Mittagssonne saßen und sich sonnten.
Woher nimmt er nur die Energie und den Mut, dachte Dr. Schwab verblüfft. Er ist doch ein alter, ausgelaugter, verhärmter Mann geworden, dessen weiße Haare ihn zum Greis stempeln. Er ist doch nur noch der Schatten des alten Frank Gerholdt, der damals nach Berlin fuhr und aus dem Nichts Millionen für die Forschung des Kunststahles herbeizauberte. Aber schon damals gab es kein Unmöglich für ihn … schon damals. Hatte die Zeit nur im Gesicht ihre Spuren hinterlassen und seinen Geist und seine innere Kraft geschont?
Über die Straße rollten zwei Jeeps. Sie hielten vor dem Eingang der Fabrik. Sechs englische Soldaten sprangen auf die Straße und bummelten zur Fabrik hinein.
Die tägliche Kontrolle.
Dr. Schwab rannte vom Ufer des Rheins in die Fabrik. Jetzt passiert es, durchfuhr es ihn. Jetzt verhaften sie ihn. Jetzt erschießen sie ihn.
Er jagte über zerborstene Eisenträger, er stolperte über die Steinhaufen, er hetzte durch die zerfetzte Halle auf den Platz.
Mit Entsetzen sah er, wie Frank Gerholdt ruhig den Engländern entgegenging, als handelte es sich um einen netten Besuch. Er ist irrsinnig, durchfuhr es ihn. Er ist bestimmt irrsinnig.
Die sechs Soldaten hoben ihre Maschinenpistolen in Anschlag.
Dr. Schwab wandte sich ab und ging zurück zum Eingang der unterirdischen Bunker. Ich muß mich um Rita kümmern, dachte er voller Traurigkeit und Schmerz. Jetzt ist alles vorbei.
Alles, alles vorbei – – –
6
Drei Jahre später – an einem regnerischen Novembertag 1948 – wurde Frank Gerholdt aus der englischen Internierung entlassen.
Man hatte ihn nicht gehenkt; auch ein Prozeß als Kriegsverbrecher zeigte sich als eine haltlose Anklage, denn Gerholdt hatte zwar am Krieg verdient, aber er galt nicht als der große Gewinner am Elend, wie es die anderen großen Industriellen von der Anklage bescheinigt erhielten. Demontieren konnte man ihn nicht, denn was von seiner Fabrik übriggeblieben war, die wenigen Maschinen, die an einer Hand
Weitere Kostenlose Bücher