Schicksal aus zweiter Hand
Kunststoff! Die Erfindung des Kunststoffes, die Lehre von den schweren Molekülen, war eine Weltrevolution! So etwas will auch ich einmal erfinden – ein neues Weltgesicht aus der Retorte!«
»Sie sind ein Utopist«, lachte Rita und trank den Sekt. »Für Sie ist die Welt klein geworden – es gibt für den Chemiker kaum noch etwas Neues zu erfinden! Da sind wir Mediziner besser dran. Krebs, multiple Sklerose, Lepra, Kinderlähmung und einige neue auftauchende Krankheiten werden uns noch Jahrhunderte in Atem halten. Dann sitzt ihr Chemiker da und kaut verzweifelt an den Nägeln, denn die Welt wird nur noch aus Kunststoffen bestehen!«
Bis zum Morgen flachsten sie sich an. Sie tanzten weiter, sie lachten, sie küßten sich sogar, und es war der erste Kuß, den Rita von einem fremden Mann erhielt. Sie stellte verwundert fest, daß es zwischen den Küssen sogar Unterschiede gab, denn wenn Paps sie küßte, war es in ihrem Innern und beim Klopfen des Herzens anders, als wenn Fred sie jetzt küßte.
»Ich glaube, ich habe einen Schwips«, sagte sie und strich die blonden, langen Locken von der erhitzten Stirn zurück. »Ich möchte nach Hause.«
»Darf ich dich bringen?«
»Bitte.«
Sie fuhren mit einer Taxe zu Ritas Wohnung. Als sie ausstieg, sah sie am hellerleuchteten Fenster neben der Tür eine dunkle Gestalt stehen. Fräulein v. Berlefels.
»Die Matrone!« sagte Fred spöttisch. »Du wirst bewacht wie eine heimliche Prinzessin.« Er gab ihr die Hand und hielt sie fest. Sein Druck war hart und ehrlich. »Darf ich dich wiedersehen, Rita?«
»Ich bin jeden Morgen in der Uni.«
»In der Chirurgischen?« – »Ja.«
Er drückte noch einmal ihre schmale Hand und sah sie aus seinen blauen Augen strahlend an.
»Auf Wiedersehen, Rita.«
»Gute Nacht, Fred.«
Sie wartete, bis die Taxe wieder anfuhr, und ging dann trällernd durch den Vorgarten zum Eingang der Villa. Freifräulein v. Berlefels öffnete die Tür und trat zur Seite, als Rita in die Diele wirbelte. Mißbilligend schüttelte sie den Kopf.
»So etwas will ein Arzt sein«, sagte sie tadelnd. Sie schloß die Tür zweimal ab und drehte das Licht aus bis auf eine kleine, glimmende Sparbirne. »Kommen Sie ins Bett, Rita.«
»Sofort, sofort, Fräulein v. Berlefels.« Sie nahm das alte Freifräulein an beiden Händen und drehte sie im Kreise herum. Dann zog sie die keuchende alte Dame an sich und umarmte sie stürmisch. »Was ist das, wenn das Herz an den Rippen klopft und der Kopf braust und man alle Welt umarmen möchte und so glücklich ist, so richtig glücklich. Was ist das …?«
»Der Beginn einer nie wieder gut zu machenden Verirrung.«
»Richtig! Richtig!« Rita wirbelte durch die dunkle Diele, eine tanzende Sylphide ohne Schwerkraft. »Ich bin verliebt … mein Gott, wie bin ich verliebt …«
Sie tanzte die Treppen hinauf in ihr Zimmer.
Nachdenklich sah ihr Freifräulein v. Berlefels nach.
Was wird Herr Gerholdt sagen, wenn er es erfährt?
Wie allen Vätern zu allen Zeiten bei verliebten Töchtern erging es auch Frank Gerholdt: Er erfuhr es zuletzt!
Fast ein halbes Jahr nach dem Medizinerball, an einem wundervollen warmen Juliabend, saß Rita auf der Terrasse des weißen Hauses am Rhein, trank eine Orangeade und blickte hinüber zu den weißen Schiffen, die mit bunten Flaggen durch den Strom glitten. Musikfetzen flimmerten herüber. Gesang. Lachen. Frank Gerholdt las die Frankfurter Zeitung. Börsenkurse.
»Du, Paps?«
»Was ist, mein Liebling?«
»Ich muß dir etwas sagen, Paps.«
»Einen Wunsch? Schon erfüllt.« Gerholdt sah zu Rita hinüber. Sie lehnte sich in ihrem Gartensessel zurück und ließ die langen, blonden Haare im Sommerwind flattern.
»Keinen Wunsch, Paps. Eine Tatsache.«
»Das klingt ja geheimnisvoll.« Gerholdt lachte und beugte sich vor. »Nun … leg los, du kleiner Teufel. Was hast du verbrochen? Was soll ich wieder glatt bügeln?«
»Das kannst du nicht mehr glatt bügeln, Paps. Das ist zu fest. Hier – im Herzen.« Sie zeigte auf ihr Herz. »Ich habe mich verliebt.«
»Was hast du?« Gerholdt lächelte. Meine kleine Rita, sie hat sich verliebt. Er sah sie an und sah plötzlich, daß sie gar keine kleine Rita mehr war, wie es ein jedes Kind in den Augen der Eltern ist, sondern ein erwachsener Mensch mit dem Recht auf ein eigenes Leben, ein Mädchen, das empfinden konnte und das alt genug war, zu beurteilen, ob es eine Schwärmerei war oder eine wirkliche Liebe. Sie war erwachsen, und er hatte es nie gemerkt.
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