Schicksal aus zweiter Hand
Ihnen das Leben alles gegeben! Eine große Fabrik, Reichtum, Ansehen, ein Wort, das in der ganzen Welt gilt, ein wundervolles Haus, eine herrliche Tochter.« Er schüttelte den Kopf. »Sie sind undankbar dem Schicksal gegenüber.«
»Undankbar ist vielleicht ein falscher Ausdruck. Ich bin mißtrauisch, Dr. Schwab.«
»Was kann Ihnen jetzt noch geschehen?«
»Was? Ja, was?!« Gerholdt lächelte leicht. Es war ein bitteres Lächeln, das sein Gesicht noch älter werden ließ, als es die Runen schon machten. »Man sagt da im Volksmund etwas von Gottes Mühlen … Halten Sie mich nicht für dumm oder für plötzlich geistesgestört. Und doch glaube ich, daß dieser Glanz, der uns alle heute umgibt, eine perfide Art des Schicksals ist, den Absturz zu vervielfältigen.«
»Den Absturz? Aber Herr Gerholdt!«
Gerholdt hob abwehrend die Hand. »Sie glauben an das Sichtbare, Dr. Schwab. Das ist Ihr gutes Recht. Sie sind Konstrukteur … bei Ihnen gelten die Realitäten. Die Welt ist für Sie ein Zeichenbrett, auf dem Sie Ihr Schicksal berechnen und einteilen in Kreise, Winkel, Kegelschnitte und Quadrate. Für mich ist diese Welt etwas anderes. Vielleicht eine kaum erklärbare Mystik, bei deren Erkennen auch das eigene Ende eintritt. Auf jeden Fall ist dieses Leben für mich ein Kampf … nicht gegen die Konkurrenz, nicht gegen die Zeit, nicht gegen das Greifbare, Dr. Schwab … nein, gegen etwas, was man schlechthin Gewissen nennt und was doch mehr, viel mehr ist … die Hand des Göttlichen, die immer an der Kehle liegt.«
»Was haben Sie zu fürchten?« Über Dr. Schwabs Gesicht lief eine Welle von Mitleid für den weißhaarigen Mann, den er nur als einen nimmermüden Lebensmotor kannte, als einen Vater, der die Welt erobern könnte für sein Kind, und der ein Geheimnis mit sich herumtrug, von dem er sich nicht befreien konnte und das ihn niederdrückte … um so tiefer, je höher er emporstieg in der Achtung seiner Umwelt.
»Ich fürchte nichts. Ich erwarte etwas.«
»Und was erwarten Sie?«
»Die Vergangenheit.«
»Ich kenne sie nicht, Herr Gerholdt. Ich möchte sie auch nicht wissen, weil sie mich nichts, gar nichts angeht. Aber ich kenne das Heute, ich kenne Sie seit über vierzehn Jahren, ich weiß, wer Sie sind, was Sie sind. Und ich werde mich vor Sie stellen und mit Ihnen das Schicksal durchstehen, das Sie erwarten.«
Gerholdt lächelte schwach. »Sie sind ein so guter Mensch, Dr. Schwab. Sie könnten aus dem Märchen entsprungen sein … Es war einmal ein Mann, der seine Welt unendlich liebte, daß – – – Leider erleben wir keine Märchen mehr, sondern Tragödien. Unsere Welt will nicht träumen, sondern zerstört werden!« Er wischte sich über die Augen, wie er es immer tat, wenn er einen Gedanken abschließen wollte, und hakte sich bei Dr. Schwab ein. »Kommen Sie, Doktor. Gehen wir an unsere Schreibtische. Dort ist unser Zuhause.«
*
1955 – Rita stand kurz vor dem Abschlußexamen und hatte ihre medizinische Doktorarbeit bereits fixiert – lernte sie auf einem ausgelassenen Medizinerball in Bonn einen jungen Mann kennen.
Frank Gerholdt, durch das Studium seiner Tochter in seiner stillen Liebe, der Medizin, versunken, hatte die Jahre hindurch fleißig mitgelernt. Während Rita von in Formalin schwimmenden Leichen Häute abzog und präparierte, Muskelschnitte ausführte, Adern heraustrennte und Arme und Beine amputierte, lernte Gerholdt in den medizinischen Fachbüchern und aus den Kollegnotizen Ritas den ganzen Komplex mit. Er hörte Rita ab, sie arbeiteten zusammen unter dem Mikroskop, er machte mit ihr Zeichnungen und saß nächtelang mit ihr in Bonn zusammen, um die Semesterarbeiten zu gestalten.
Er freute sich, ja, er war glücklich.
Aus Rita war eine schlanke, blonde Schönheit geworden, nach der sich die Männer auf den Straßen umdrehten. Gerholdt fand das unartig. »Ich werde jeden ohrfeigen, der dir zu nahe tritt!« sagte er einmal zu Rita.
»Es wird keiner kommen, Paps«, lachte sie dann. »Wir wollen doch zusammenbleiben, nicht wahr?«
»Das wollen wir, Rita –«
In diesen Tagen erhielt Gerholdt auch den Besuch eines Vertreters aus Südamerika. Nach Abschluß des Geschäftes kam das Gespräch auf die Geheimnisse des brasilianischen Urwaldes, auf die riesigen, ungehobenen Bodenschätze und den Reichtum der edlen Hölzer.
»Das Merkwürdigste aber sind die Indianer«, sagte der Vertreter und legte eine kleine flache Schachtel auf den Tisch. »Sehen Sie hier – ich trage es aus
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