Schicksal aus zweiter Hand
Sie war immer seine kleine Rita geblieben, sein Nesthäkchen, sein Lebensinhalt. Und jetzt saß sie da, mit im Winde flatternden Haaren, ein schönes, herrliches erwachsenes Mädchen an der Grenze zur Frau, und sagte zu ihm: Ich habe mich verliebt.
Er lachte nicht mehr. Er wußte, sie wollte ernst genommen werden.
»Wer ist es denn?« fragte Gerholdt.
»Ein Chemiker. Er hat vorige Woche sein Examen gemacht und arbeitet jetzt an seiner Dissertation: Mutationstheorie der Schwermoleküle.«
»Soso. Mutationstheorie. Hm.« Gerholdt lehnte sich zurück. »Ein kluger Kopf?«
»Ein wahnsinnig kluger, Paps.«
»Und wie lange kennt ihr euch?«
Rita stockte einen Augenblick. Sie stocherte mit dem Strohhalm in ihrer Orangeade herum und schämte sich, die Wahrheit zu sagen.
»Ein halbes Jahr, Paps.«
»Soso.«
»Bist du jetzt böse, Paps?« Ihre Stimme klang kläglich. Gerholdt schüttelte den Kopf.
»Nicht böse, sondern traurig.«
»Traurig?«
»Weil du kein Vertrauen zu deinem Vater hattest.«
»Ich hatte Angst, Paps.«
»Vor mir? Rita! Du hattest vor mir Angst?«
Sie nickte schwach. »Ich hatte Angst, daß du Fred einen Brief schreibst und alles zerstörst.«
»Ich schreibe keine Briefe in solchen Dingen – ich komme selbst!«
»Siehst du! Und du hättest Fred ausgeschimpft.«
»Fred heißt er also?« – »Ja.«
»Ich hätte deinen Fred zunächst einmal gefragt, wie er sich alles denkt!« Gerholdt sah Rita ernst an. »Mit einer Theorie über Schwermoleküle kann man kein Leben beginnen. Das Leben will eine Praxis!«
»Vor der Praxis steht die Idee! Das hast du immer gesagt! Auch bei Dr. Schwab war erst die Theorie da! Du selbst hast diese Theorie damals für eine Million gekauft! Und du hast Millionen mit ihr verdient!«
Über das Gesicht Gerholdts zog ein etwas wehmütiges Lächeln. »Du setzt dich mächtig ein für deinen Fred.«
»Er ist ein lieber, feiner Kerl, Paps.«
»Vor allem lieb –«
»Paps!«
Sie warf die Locken zurück und wandte sich ab. Über ihren schmalen Rücken glitt der warme Sommerwind und beulte die weiße Perlonbluse auf. Das blonde Haar flatterte weit über die Schultern.
»Du bist gemein«, sagte sie schmollend. »Du solltest Fred einmal kennenlernen.«
»Soll das eine diplomatisch versteckte Bitte sein, ihn nach hier einzuladen?«
»Väter, die ihre Töchter lieben, haben immer den Ehrgeiz, ihre späteren Schwiegersöhne zu testen.«
»Ein wunderschönes Wort. Testen! Die moderne Jugend!« Gerholdt lachte und erhob sich. Er trat hinter Rita und legte ihr beide Hände auf die Schulter. »Warum kommt der junge Mann nicht selbst zu mir? Früher – zu meiner Zeit – war es üblich, daß man sich in einen dunklen Anzug warf, sich einen Blumenstrauß kaufte, drei doppelte Kognaks trank, um Mut zu bekommen, sieben Kaffeebohnen aß, um den Alkoholgeruch im Mund zu bekämpfen, und dann losging, um sich in aller Form vorzustellen. Diener, ein bleichwangiges Stammeln, die Blumen fielen zu Boden … alles ging verkehrt, man kam sich bis auf die Knochen blamiert vor und atmete auf, wenn Tante Emma diskret leise, aber doch so laut, daß man es hörte, zu Tante Sophie sagte: Ein netter Junge, nicht wahr?«
Rita lachte. Sie legte den Kopf zur Seite auf die Hand Gerholdts und rieb ihre Wange an ihr.
»So hast du es bei Mama gemacht, Paps?«
Durch Gerholdt zog ein heißer Stich. Er schloß kurz die Augen und beherrschte sich, nicht zu zittern.
»Ja«, sagte er leise. »So habe ich es damals bei Mama gemacht.« Ein Auto, dachte er. Darin ein vor Schmerz fast wahnsinniger Mann. Neben sich die Frau, irrsinnig geworden durch den Raub ihrer Tochter. Sie schreit, sie greift in das Steuerrad des schweren, rasenden Wagens, sie stürzen die Böschung zur Elbe hinunter. Eine Familie ist ausgelöscht. Einfach ausradiert durch einen Schuft, der für hunderttausend Mark Lösegeld ein kleines, krankes Mädchen raubte.
»Und was hat Mama damals gesagt?«
»Sie wartete im Nebenraum auf das, was kommen sollte. Entweder ein Ja oder ein Nein.«
»Und es wurde ein Ja. Glückliche Mama –«
Frank Gerholdt biß sich auf die Lippen. Wie gemein das alles ist! Wie hundsgemein! Glückliche Mama … sie starb im Wahnsinn durch einen Frank Gerholdt, der ihr das Liebste raubte, was ihr das Leben geschenkt hatte. Er streichelte über Ritas blonde Locken. Wie Seide waren sie. Wie im Märchen gesponnenes Gold.
»Bring diesen Fred das nächstemal mit zu uns«, sagte er tief atmend.
»Danke, Paps,
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