Schicksal aus zweiter Hand
unseres Lebens.«
»Und ich liebe Rita!«
»Darum bin ich hier. Rita hat es mir gesagt.«
»Und Rita weiß, daß Sie heute bei mir sind?«
»Nein. Sie denkt, ich bin in der Fabrik.« Gerholdt sah auf seine Hände. »Es war keine dumme Redensart, als ich vorhin zu Ihnen sagte, ich wolle Ihnen den Frieden schenken.«
»Ich verstehe nicht recht«, sagte Fred v. Buckow ratlos.
»Ich bin – nachdem meine Tochter mir von Ihnen erzählte – heimlich nach Bonn gekommen, um Sie als Ehrenmann zu bitten, den Verkehr mit meiner Tochter einzustellen.«
»Einzu…«
»Und zwar ab sofort!«
»Herr Gerholdt!« Fred v. Buckow war blaß geworden. Er rang die Finger ineinander, bis sie knackten, und spürte den Schmerz nicht. »Ich … ich habe geglaubt …«
»Ich habe auch soviel in meinem Leben geglaubt, Herr v. Buckow. Ich habe an das Glück geglaubt, an Reichtum, an Unabhängigkeit, an Ruhm, an Macht –«
»Alles, was Sie bekommen haben!«
»Alles, ja. Nur das erste nicht … das Glück! Und vor allem das Höchste nicht: den Frieden! Weil ich dieses Leben kenne und weil ich Ihnen das furchtbarste Erwachen aus einem Traum ersparen möchte, das es je bei einem Menschen gegeben hat, darum nur allein bitte ich Sie – hören Sie: ich bitte Sie – sich ab sofort nicht mehr mit Rita zu treffen!«
»Das ist unmöglich«, sagte Fred v. Buckow laut.
»Unmöglich?« Gerholdt sprang auf. Der Funken seines unbedingten Willens glühte wieder auf. Er sah Kampf, und wie immer im Leben wich er nicht aus, sondern stellte sich. Er stieß den Kopf vor wie ein angreifender Stier und hörte, daß seine Stimme nicht mehr heiser, sondern laut und hart und kompromißlos wurde. »Es gibt kein Unmöglich!«
»Wenn es das nicht gibt, so sehe ich nicht ein, warum ich Rita nicht mehr sehen sollte. Ohne eine Begründung Ihrerseits!«
»Ich habe es als Vater nicht nötig, Erklärungen zu geben! Es genügt, wenn ich nicht will!« bellte Gerholdt zurück. Er ging in dem schmalen, aber langen Zimmer hin und her und unterstrich seine Worte mit heftigen Handbewegungen. »Ich wünsche, daß Sie Rita nicht mehr sehen! Warum, das ist meine Sache!«
»Nein, Herr Gerholdt: wenn zwei Menschen sich lieben, ist das auch ihre Sache. Ihre ureigenste Sache!«
»Liebe! Was versteht ihr schon von Liebe? Ein Jucken in der Herzgegend, ein Seufzer im Mondschein … und schon nennt ihr es Liebe!« Gerholdt blieb vor Fred v. Buckow stehen. »Sie wissen gar nicht, was Liebe ist!« sagte er herrisch.
Der junge Mann hielt dem eiskalten Blick stand. Ihn überlief ein Schauer, als er die starren Augen vor sich sah, diese Augen ohne Gefühl, ohne Regung, ohne Menschlichkeit. Augen aus der Retorte.
»Ich weiß es!« sagte er tapfer. »Und ich werde mit Rita darüber sprechen …«
»Das werden Sie nicht!« schrie Gerholdt.
»Rita ist großjährig. Sie hat einen eigenen Willen! Sie allein wird entscheiden! Und ich weiß, wie sie entscheiden wird! Jetzt weiß ich es, wo ich Ihre Augen sehe!«
Durch Frank Gerholdt zog die Kälte, die er damals spürte, als er Rita aus der weißen Villa riß und das Kindermädchen würgte. Die Kälte völliger Gefühllosigkeit.
Alles war umsonst gewesen. Der Raub, der langsame Aufstieg, die Blutspende, mit der er Rita rettete, der Mord an Petermann, der steile Weg zum Erfolg, die Flucht aus Ostpreußen, der Wiederaufbau … die ganzen Jahre ohne Ruhe, ohne Selbstbesinnung, ohne Liebe schmolzen dahin, und er stand wieder vor dem Hafenkai zwölf, der kleine, dürre, ausgehungerte Gelegenheitsarbeiter Frank Gerholdt, eine Kippe zwischen den fahlen Lippen, in der Tasche zwei Mark, die für einen Teller Suppe und ein Bett im Asyl reichten. Und für eine Zeitung, in der stand, daß das Kidnapping ein Modeverbrechen geworden war, sich aber in Deutschland nicht lohnte. Um fünf Uhr Säcke schleppen, um sieben Uhr Kohlen trimmen, um zehn Uhr stempeln gehen, anschließend wieder zum Hafen … Juteballen verladen, im Getreidesilo Säcke abwiegen … Ein furchtbarer Tag! Abends dann hinaus nach St. Pauli, ein paar Glas Bier, ein blondes, dralles Mädchen, das nach einigen Verhandlungen für drei Mark Ja sagte … am Morgen die bleierne Ernüchterung, ein Ekel vor sich selbst, ein Ausspucken vor dem eigenen tierischen Geruch … Und wieder ein Tag. Hafen, Säcke schleppen, Kohlen, Gemüse, Obst … Oder auch gar nichts. Wieder Hunger, wieder das Leben eines streunenden Hundes … Alles, alles kam wieder zurück, weil die Zeit zusammenschrumpfte
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