Schicksal aus zweiter Hand
Telefon. Dann hob er den Hörer wieder ans Ohr und klopfte auf die Membrane.
»Ruhe!« sagte er laut. Wie damals, als er mit Dr. Werner über die hunderttausend Mark Lösegeld verhandelte, waren seine Nerven bis ins Letzte angespannt. »Was du sagst, ist Quatsch! Ich habe die Kerle 'rausgeworfen, weil sie aus mir einen Popanz machen wollten! Sie haben meine Baracke gesehen und gedacht: den kaufen wir uns! Der ist billig. Das ist ein verhungerter Hund, der froh ist, wenn man ihm einen abgenagten Knochen hinwirft. Ein bißchen mit dem Geld unter dem Hintern kitzeln, dann fliegt er los wie ein Gasballon! Mag sein, daß ich ein armes Schwein bin, aber ich bin noch nicht so arm, um mich ganz zu verkaufen! In die Anatomie kommen Leichen, aber keine Lebenden. Ich habe einen eigenen Willen, und den lasse ich mir nicht nehmen.«
»Willen! Mensch – die machen dir die Bude zu, wenn du die große Fresse hast!« Der Exportkaufmann hieb mit der Faust auf den Tisch. Gerholdt hörte den Knall durch das Telefon. »Sie haben bereits der Walzwerk AG gesagt, daß sie dir keine Aufträge mehr geben sollen! Sie holen dir die Maschinen nächste Woche heraus! Willst du noch mehr wissen?«
Frank Gerholdt setzte sich schwer. Das war mehr, als er befürchtet hatte. Er erkannte die Macht der neuen Herren und sah seine eigene Ohnmacht, in niederschmetternder Klarheit. Keine Maschinen mehr, keine Aufträge, die Baracke weggepfändet. Wieder stempeln gehen, auf Röhrenmontage, als Straßenarbeiter, als Schlepper im Kölner Hafen … Drei Jahre umsonst geschuftet.
Was würde Irene sagen? Mein Gott – er konnte ja nie Irene heiraten, wenn das wahr würde, was er eben gehört hatte. Und Rita? Was würde aus Rita werden?
»Hör mal«, sagte er schwach. »Ist das sicher?«
»Was?«
»Daß sie die Maschinen abholen wollen.«
»Sie haben es gesagt. Aber ich habe noch einmal eine Frist von vierundzwanzig Stunden herausgeholt. Wir müssen uns unbedingt sprechen, Frank! Du bist dabei, ein ganzes Leben zu vermisten. Wenn du nicht vernünftig wirst, hänge dich lieber gleich auf. Du bist jetzt in der großen Mühle drin, und du mußt mitmahlen, um nicht selbst verschrottet zu werden. – Wann können wir uns sehen?«
»Heute abend. Ich komme hinaus nach Zollstock in das Stammlokal.«
»Um neun Uhr?«
»Ja.«
Er hängte ab und saß wie niedergeschlagen am Tisch. Sie machen mich fertig, dachte er. Sie haben alle Mittel in der Hand, mich völlig zu zerstampfen. Wenn sie erst erfahren, wer ich bin … Er wagte nicht weiterzudenken und starrte vor sich auf die schmutzige Tischplatte. Er hörte nicht, wie seine drei Arbeiter am Abend die Maschinen abstellten, sich wuschen, ihre Anzüge aus den Spinden holten und die Baracke verließen. Er saß in seiner abgeteilten Ecke und starrte vor sich hin.
Keine Maschinen … keine Aufträge … wieder gejagt werden von Ort zu Ort … ruhelos, unerbittlich … Irene verloren … Rita verloren. Seine Rita …
Er legte den Kopf auf die Arme und schluchzte.
Am nächsten Morgen erklärte er sich bereit, allen Bedingungen, die man ihm stellte, zuzustimmen. Die Aussprache mit dem Exportkaufmann und später mit Herrn Berger von der Walzwerk AG war kurz gewesen. Beide sagten ihm das gleiche – der eine grob, der andere umschreibend, eleganter, aber deshalb auch weitaus gefährlicher.
»Wir stehen alle in einem gewaltigen Umerziehungs- und Umschmelzungsprozeß«, sagte Herr Berger philosophisch-weltanschaulich. Er spielte dabei mit seinem Parteiabzeichen an seinem Revers und fühlte, daß er wirklich selbst glaubte, was er sagte. »Wir schmieden eine neue Nation, Herr Gerholdt. Eine Nation, die Geschichte macht und die stärkste und bleibendste der Welt sein wird. Das erfordert den Einsatz eines jeden von uns, auch des kleinsten Betriebes, wie Sie einer sind. Stellen Sie sich eine Riesenmaschine vor. Wenn nur eine Schraube locker ist, ein Rädchen sich verklemmt, eine Stelle nicht geölt ist, kann der ganze Apparat zum Stillstand kommen! Wir alle sind eingespannt in die große Idee des Führers. Solange der Aufbau ist, kennen wir keine persönlichen Wünsche mehr, keine kleinlichen Überlegungen, keine bürgerlichen Plüschmoralien. Wir kennen nur eins: das Leben Deutschlands! Das Erwachen der Nation! Das Schmieden eines neuen Weltbildes! In dieser Schmiede ist auch Ihr Hammerschlag wichtig, lieber Gerholdt.«
Etwas benommen verließ Frank Gerholdt Herrn Berger und seine immer höher lodernde Begeisterung. Nun gut
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