Schicksal aus zweiter Hand
Essen und Oberhausen hatte diese Schwierigkeiten nicht. Sie hieß auch nicht Silberbaum.«
»Hm.« Gerholdt sah auf seine Hände. Ihm fiel Herr Berger ein mit seiner These, daß im neuen Staate nur der emporkommt, der eine Nummer im Parteiverzeichnis besitzt.
»Ich nehme an, Sie sind Parteigenosse?« sagte Herr Silberbaum fast unterwürfig.
»Ja. SA-Mann!« Gerholdt hob die Hand, als Silberbaum etwas sagen wollte. »Aber glauben Sie nicht, daß ich hier sitze, als SA-Mann und NS-Funktionär, um Ihnen die Fabrik mit einer Ohrfeige abzunehmen. Ich bin als privater Käufer gekommen, der nicht fragt, wie der Besitzer der Fabrik heißt, sondern den nur interessiert, was in dem Werk als Kapazität drinsteckt und was man aus ihm machen kann.«
»Alles, Herr Gerholdt!« Jakob Silberbaums Augen wurden rotumrändert. Er atmete stoßweise. »Wenn Sie die Fabrik wirklich kaufen wollen, dann werden Sie als Parteigenosse in einem Jahr das Werk verdoppeln können! Sie werden ja alle Staatsaufträge bekommen. Für Sie gibt es keine Devisenschwierigkeiten. Sie können exportieren. Ich kann Ihnen die Anfragen zeigen …« Er erhob sich, holte aus einem alten Wandregal eine dicke Mappe und klappte sie vor Gerholdt auf. Briefe quollen hervor … in französischer, englischer, spanischer, portugiesischer, italienischer Sprache. Briefe aus aller Welt. Und immer der gleiche Text: Wir bestellen … Wir warten auf Ihre Lieferung … Warum schweigen Sie? … Wann können Sie liefern? … Jakob Silberbaum nickte schwer. »Ich kann nichts anderes tun als zu antworten: ›Wenden Sie sich bitte an die Reichsdevisenstelle.‹ Und wenn sie es tun, erhalten von Berlin aus die anderen Fabriken die Aufträge, aber kein Silberbaum. Es ist nun einmal so, mein Herr.« Silberbaum klappte die Mappe wieder zu. Seine kleine, schmächtige Gestalt wirkte, als habe man sie zwischen diesen Aktendeckeln zerquetscht. »Die Bilanz lasse ich Ihnen sofort kommen, wenn Sie Wert darauf legen. Ich verschweige Ihnen nicht, daß die Passiva höher sind als die Aktiva. Es ist die Bilanz eines Zusammenbruchs, Herr Gerholdt. Ich habe einen Teil meines Privatvermögens geopfert, um die wenigen Arbeiter zu entlohnen, die noch bei mir sind. Und ich arbeite nur weiter, weil ich anderen nicht den Triumph gönne, mich in einem Konkursverfahren zu verurteilen!«
In Silberbaums Stimme quoll etwas wie Kraft und letzter Trotz auf. Frank Gerholdt nickte. Er verstand ihn. Er kannte die Gegner Silberbaums jetzt selbst, diese Bergers, Petermanns und wie sie hießen. Diese Hyänen, die sich am Aas der Konkurrenz mästeten und sonntags hinter der Standarte und den wehenden Fahnen hermarschierten und gegen die feiertagsstillen Hauswände brüllten: Juda verrecke! Nieder mit den Juden! Deutschland erwache! Ein Lied! Drei – vier – Uns geht die Sonne nicht unter.
»Kann ich die Fabrik einmal besichtigen?«
»Aber selbstverständlich, Herr Gerholdt. Sie werden einen Sterbenden in den letzten Zügen sehen. Zwei Maschinen arbeiten noch. Eine kleine Walzenstraße. Es ist das letzte Stöhnen …«
Zwei Stunden gingen sie durch die Fabrik. Durch die Montagehallen, an den Walzenstraßen vorbei, an den stillgelegten Maschinen, dem Magazin, den Waschkauen, dem Aufenthaltsraum, dem Lager, hinunter zum Rhein zur Rampe, zu den schmalen Gleisen, auf denen die Schmalspurwagen bis zu dem zwei Kilometer entfernten Güterbahnhof von schnaufenden Kleinloks gezogen wurden. Auch diese Lokomotiven standen still und verstaubend in einem Schuppen. Jakob Silberbaum senkte den Kopf.
»Was wir heute walzen, kann ein Lastwagen gemütlich wegfahren.«
Gerholdt stand am Rhein. Die kalte, feuchte Regenluft umwehte ihn. Er kämpfte mit sich und seiner Verantwortung Rita gegenüber. Er kämpfte mit Zweifeln und einem zu hohen Optimismus. Vor allem aber kämpfte er mit einem aufsteigenden Mitleid Herrn Silberbaum gegenüber. Mitleid ist ein schlechter Verhandlungspartner, sagte er sich immer wieder. Wenn es um Geld geht, darf es kein Mitleid geben, sondern nur die greifbare Realität. Wenn es um Geld geht, wird um den Pfennig gefeilscht, ganz gleich, ob der Partner Silberbaum oder Emil Schmitz heißt. Geld kennt kein Mitleid. Geld verhärtet den Charakter. Geld ist eine Macht. Und nur der wirklich Mächtige kann es sich leisten, Mitleid zu haben, wenn er ganz oben an der Spitze steht. Aber bis dahin ist der Weg gemein und schwer, rücksichtslos und fast ohne Moral. Der Weg empor ist der Verzicht auf Seele.
Frank
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