Schicksal aus zweiter Hand
weißgelb, spitz. Die haselnußbraunen Haare fielen auf das Weiß des Kissens wie ausgerupfte Federn. Die Hände, die auf der Decke lagen, waren leblos, fast kindlich in ihrer Schmalheit und Blässe. Irene hatte die Augen geschlossen. Unter den Jochbeinen waren die Wangen eingefallen, das Kinn ragte spitz empor.
Durch Gerholdt lief ein Zittern. »Sie – sie – ist ja tot –« röchelte er. Schnell schloß Dr. Schauchardt die Tür. Er faßte Gerholdt am Arm und zog ihn weg. Willenlos folgte ihm Gerholdt bis zu einer Korbsesselgruppe, die in einer Ausbuchtung des Ganges stand und für wartende Besucher eingerichtet war.
»Der Anblick ist erschütternd«, sagte er leise. »Das Koma wirkt wie der Tod … aber sie lebt noch. Wie lange noch – das weiß allein Gott.«
»Gott? Wo ist Gott?!« sagte Gerholdt bitter. Der Arzt sah Gerholdt groß an.
»Sie glauben nicht an Gott?«
»Ich habe ihn noch nicht gesehen. Wenn es einen Gott gibt, so haßt er mich.«
»Er prüft Sie.«
»Ein ganzes Leben lang?«
»Unser Leben ist nur eine Prüfung Gottes.«
»Dann wäre es besser gewesen, mich erst gar nicht auf diese Welt zu setzen. Ich werde keine Prüfung bestehen – ich werde immer aufbegehren und schreien: Warum? Wofür? Von einem Gott erwarte ich Milde – aber keine immerwährende Rache.«
Dr. Schauchardt hob erstaunt den Kopf. »Rache? Wofür Rache, Herr Gerholdt?«
Frank Gerholdt winkte ab. »Es ist lange her. Ich war dabei, es zu vergessen. Aber der, den Sie Gott nennen, der vergißt anscheinend nicht. Nie!« Er erhob sich und streckte Dr. Schauchardt die Hand hin. »Vergessen wir dieses kurze Gespräch, Herr Doktor. Ich nehme an, daß Sie in einem guten Elternhaus aufgewachsen sind, daß Ihr Vater Sie umsorgte, daß Sie immer einen vollen Teller vor sich stehen hatten, daß Sie das besaßen, was man eine Jugend nennt. Sie haben ein Recht, ja eine Verpflichtung, an Gott zu glauben. Aber ich?« Er winkte ab. Etwas Tragisches lag in dieser müden Handbewegung, etwas Resignierendes, das Dr. Schauchardt mit Mitleid erfüllte. »Ich bin der Fabrikant Gerholdt, gewiß. Ich habe soeben von Berlin eine Million mitgebracht. Wer das hört, wird in Ehrfurcht erstarren. Der Millionär Gerholdt! Auch wenn's nur ein Kredit ist – wem man eine Million anvertraut, muß etwas vorweisen können, das dieses Vertrauen rechtfertigt. So sieht's nach außen aus, lieber Herr Doktor. Und wer meine Hände betrachtet, wird sagen: Typische Fabrikantenfinger. Der hat nie einen Eisenträger angepackt!« Gerholdt lachte gequält. »Es hat ein halbes Jahr gedauert, bis die letzten Hornhautschwielen verschwanden.«
»Alle Achtung vor Ihnen, wenn Sie sich emporgearbeitet haben«, sagte Dr. Schauchardt ehrlich. »Erkennen Sie daran nicht Gottes Hilfe?«
»Gott?« Gerholdt atmete tief. »Wenn alles, was mit mir in diesen Jahren geschehen ist, von Gott kam, dann ist er ein alter, tauber, blinder, lahmer Herr, der seine Handlungen nicht mehr übersehen kann und bitterlich weinen würde, wenn man ihm jemals die Wahrheit sagt.« Er wandte sich um und sah auf die kleine weißlackierte Tür, mit der schwarzen Zahl 46 und dem roten Punkt der Lampe darüber. »Wann darf ich wiederkommen?«
»Jederzeit.«
»Danke, Herr Doktor.«
»Wenn sich der Zustand verschlechtern sollte, was wir nicht hoffen, rufe ich Sie sofort an.« Dr. Schauchardt erhob sich gleichfalls und reichte Gerholdt die Hand. »Halten Sie es für zweckmäßig, daß wir die Kriminalpolizei einschalten?«
»Die Kriminalpolizei? Warum?«
»Um den Mann zu finden, der ihr Fräulein Braut so zurichtete.«
Gerholdt schüttelte den Kopf. In seine Stimme kam ein bitterer Sarkasmus. »Glauben Sie, die Kriminalpolizei gäbe sich etwas Mühe, wenn Sie ihr erzählen, daß auf der Wange Irenes der Abdruck eines Hakenkreuzes war? Glauben Sie das wirklich? Einen besseren Freifahrschein für den Kerl gibt es gar nicht.«
»Wie Sie denken.« Dr. Schauchardt begleitete Gerholdt bis zu der Glaspendeltür, die den Zimmerflur von der Treppenhalle abschloß. »Sie sind kein Parteigenosse?« fragte er, indem er den einen Flügel aufstieß.
»Doch!« Gerholdt knöpfte seinen Mantel zu. »Von heute ab mehr denn je …« I
Kopfschüttelnd sah ihm Dr. Schauchardt nach, wie er die Treppe hinabging. Ein mittelgroßer, athletisch gebauter Mann. Merkwürdig, dachte Dr. Schauchardt. Er kommt mir bekannt vor. Gleich, als ich ihn sah, war es mir, als hätte ich ihn schon einmal gesehen. Aber auch die Bilder, die
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